
Energiewende : Die Kernkraft-Wette
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Die Reaktorgebäude des Kernkraftwerks Fukushima Bild: dpa
Die deutsche Energiewende hat einen Makel: Eine nüchterne Abwägung zwischen der atomaren und der fossilen Brückentechnologie hat niemals stattgefunden.
Die Kernenergie ist die anspruchsvollste und fortschrittlichste Form der Energiegewinnung, die jemals ersonnen wurde. Jeder Reaktorblock kann als Beleg dafür gelten, welch tiefes Verständnis des Kosmos der Mensch erreicht hat und dass er dieses auch zu nutzen versteht.
Genau deshalb hat der Münchener Philosoph Julian Nida-Rümelin dem deutschen Ausstieg aus der Atomenergie jüngst eine hohe zivilisatorische Bedeutung zuerkannt: Der Abschied zeige, dass unsere Spezies anders als häufig behauptet nicht Sklave ihres Wissens und Könnens sei. Es sei möglich, auf eine Technologie wie die Kernkraft in Anbetracht ihrer Risiken zu verzichten und stattdessen risikoarme, wenngleich vergleichsweise primitive Technologien wie die Windkraft oder die Photovoltaik weiterzuentwickeln, bis ein zufriedenstellendes Ergebnis vorliegt.
Nida-Rümelin wertet die deutsche Energiepolitik deshalb als einen Beleg für die Freiheit und die Gestaltungskraft des Menschen, die im Umgang mit den ungeheuren Möglichkeiten der Gentechnologie oder der Künstlichen Intelligenz noch einmal große Bedeutung erhalten werden.
Keine ganz sichere Wette
Zehn Jahre nach Fukushima besteht allerdings Anlass, sich das energiepolitische Kalkül der Bundesregierung auch etwas detaillierter als mit dem philosophischen Meterstab anzuschauen. Die Nutzung der Kernkraft lässt sich mit einer Wette vergleichen, die man fast immer gewinnt. In den allermeisten Fällen bekommt man verlässlich viel Energie, und es passiert nichts Schlimmes. Zweimal, 1986 und 2011, ist diese Wette schon schrecklich schiefgegangen. Im Ergebnis gibt es Regionen, die auf sehr lange Sicht verstrahlt sein werden.
Es lässt sich also nachvollziehen, wenn man solchen Risiken künftig aus dem Weg gehen will. Allerdings besteht mit dem Klimawandel noch eine weitere Herausforderung, die – und das ist der Punkt – auf einem Zeitstrahl gegen die Gefahren durch die Kernkraftwerke abzuwägen ist.
Makel der deutschen Energiewende
Über das Ziel dürfte weitgehend Einigkeit bestehen: Die Menschheit soll ihren Energiehunger so bald wie möglich aus erneuerbaren Quellen wie Photovoltaik oder Windkraft stillen. Bis die Batterie- oder Wasserstofftechnologie allerdings so weit fortgeschritten sind, dass auch eine verlässliche Energieversorgung durch die erneuerbaren Energien möglich ist, wird es noch etliche Jahre dauern.
Man hat also de facto die Auswahl zwischen zwei Brückentechnologien: der Kernkraft, die ein hohes Gefahrenpotential birgt, das sich nur selten realisiert, und den fossilen Energieträgern Kohle oder Gas, deren Nachteile sich in Form von Emissionen auf jeden Fall realisieren. Und kaum jemand wird heute noch behaupten, dass das ausgestoßene Kohlendioxid keine nennenswerten Nachteile für das Klima mit sich bringe.
Der Makel der deutschen Energiewende ist, dass eine nüchterne Abwägung zwischen der atomaren und der fossilen Brückentechnologie niemals stattgefunden hat. Die Wirtschaft ist hauptsächlich an einem zuverlässigen Stromfluss und grundlastfähigen Kraftwerken interessiert.
Und die Ökobewegung ist historisch eng mit der Anti-Atomkraft-Bewegung verwoben. In zahllosen Pressemitteilungen und Wortmeldungen zum Fukushima-Jahrestag der vergangenen Woche beschwieg sie deshalb wortreich, dass der eilige Ausstieg Deutschlands aus der Kernenergie ein dickes ökologisches Preisschild in Form von zusätzlichen Kohlendioxid-Emissionen mit sich herumträgt.