Tschetschenen in Deutschland : Migration als Waffe?
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Treffpunkt radikalislamischer Tschetschenen: Der Eingang zur Fussilet-Moschee in Berlin-Moabit, die als Salafisten-Hochburg gilt. Bild: dpa
Tausende Tschetschenen reisen illegal nach Deutschland ein. Viele neigen zur Gewalt und lassen sich kaum integrieren. Moskau zieht daraus seinen Vorteil.
Die Moschee in der Perleberger Straße im Berliner Stadtteil Moabit ist geschlossen. Sie sorgte für Aufsehen, weil Anis Amri, der Attentäter von Berlin, dort verkehrte. Jetzt ist der Moscheeverein „Fussilet 33“ verboten. Amri war Tunesier, doch der Verein war vor allem ein Treffpunkt radikalislamischer Tschetschenen aus Berlin und Brandenburg. Der frühere Vereinspräsident Ismet D. steht in Berlin vor Gericht. Er soll die syrische Terrorgruppe Junud asch Scham, in der viele Tschetschenen kämpfen, unterstützt haben, indem er tschetschenische Kämpfer aus Deutschland nach Syrien begleitete und Flugtickets für sie bezahlte.
Junge Tschetschenen schließen sich seit Jahren der salafistischen Szene in Deutschland an. Manche kommen schon als militante Islamisten an, andere werden hier radikalisiert. Besonders groß sind die Probleme in den östlichen Bundesländern. In Berlin gehören Tschetschenen seit Jahren zu den islamistischen Gefährdern, in Brandenburg gibt es nach Angaben des Innenministeriums zwischen 80 und 90 radikale Islamisten, die meisten sind Tschetschenen.
Sie zu beobachten bindet eine hohe Zahl von Polizisten und Verfassungsschützern. Früher galten Islamisten aus der russischen Teilrepublik im Nordkaukasus den deutschen Sicherheitsbehörden als wenig besorgniserregend. Das „Kaukasische Emirat“, in dem sie sich organisierten, betrachtete Deutschland als Rückzugs- und Ruheraum. Das hat sich in den vergangenen Jahren geändert, spätestens seit die Organisation sich dem IS unterstellt hat.
Der Druck, Deutschland wieder zu verlassen, ist gering
Die Zahl tschetschenischer Islamisten nimmt auch deswegen zu, weil immer mehr Tschetschenen nach Deutschland kommen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion haben die Tschetschenen zwei verheerende Kriege mit der russischen Zentralmacht geführt: Den ersten von 1994 bis 1996 haben sie gewonnen, den zweiten, ab 1999 schon unter Putin, dann verloren. In den vergangenen fünf Jahren reisten jedes Jahr Tausende Bewohner der russischen Teilrepublik nach Deutschland, das geschah in Wellen. Seit 2012 haben fast 36000 Tschetschenen Asyl beantragt. Die meisten von ihnen sind ohne gültigen Pass und ohne Visum eingereist.
Im vergangenen Jahr stellten mehr als 12200 Menschen aus der Russischen Föderation einen Asylantrag in Deutschland. Davon waren nach eigenen Angaben 9850 Tschetschenen, mehr als 80 Prozent. Es war die größte Einreisewelle aus Russland seit 2013. In diesem Jahr hatten sogar knapp 15500 Russen Asyl in Deutschland beantragt. Mehr als 13600 von ihnen, rund 90 Prozent, waren damals Tschetschenen. Gewährt wird ihnen Asyl nur selten. Von allen Asylbewerbern aus Russland wurden im vergangenen Jahr insgesamt 5,2 Prozent als asylberechtigt oder als Flüchtlinge anerkannt, bei den Tschetschenen betrug die Schutzquote sogar nur 4,3 Prozent.
Eigentlich dürfte sich der größte Teil der Tschetschenen also gar nicht mehr hier aufhalten. Doch der Druck, Deutschland wieder zu verlassen, ist gering. Die Tschetschenen reisen in der Regel aus ihrer Heimat nach Weißrussland und stellen dann an der polnischen Grenze einen Asylantrag. Da aber die Unterbringung für Asylbewerber in Polen schlechter ist und die finanziellen Leistungen weit geringer sind, reisen sie weiter nach Deutschland. Hier werden sie dann in Erstaufnahmelagern untergebracht und nach sechs Monaten auf die Kommunen in einzelnen Bundesländern verteilt.
Rückschiebungen können häufig nicht stattfinden
Nach dem Dublin-Abkommen müsste die ganz große Mehrheit der Tschetschenen, die in Deutschland Asyl beantragt, eigentlich nach Polen zurückgebracht werden. Denn in diesem EU-Land haben sie zuerst Asyl beantragt. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das Bamf, bearbeitet die Asylanträge der Tschetschenen deswegen erst einmal nicht. Doch kaum ein Tschetschene wird tatsächlich nach Polen zurückgebracht. Im vergangenen Jahr wurden nach Angaben des Bundesinnenministeriums von Januar bis Oktober nur 560 Personen nach Polen zurückgeschoben, wie der Fachbegriff heißt. Da Familien nicht auseinandergerissen werden, gibt es schnell einen Grund, warum eine Rückschiebung nicht stattfinden kann – mal fehlt ein Familienmitglied, mal ist eines krank, oft ist eine Frau schwanger oder gerade ein Kind geboren worden.
In Brandenburg, das im vergangenen Jahr rund 2300 tschetschenische Asylbewerber registriert hat, wurden 2016 nur 22 Familien mit 99 Personen nach Polen zurückgeschoben, wie das Innenministerium in Potsdam mitteilt. Zudem seien die nach Polen gebrachten Personen oft nach wenigen Wochen wieder zurück in Deutschland. Drehtüreffekt nennt man das. Brandenburg wünscht sich daher, dass das Dublin-Abkommen für die Tschetschenen ausgesetzt wird. Dann könnten die Asylanträge gleich in der Erstaufnahmeeinrichtung bearbeitet und abgelehnte Asylbewerber von dort nach Russland abgeschoben werden.
Dem Bund aber ist daran gelegen, die Dublin-Regeln wieder zur Geltung zu bringen – daher will er für die Tschetschenen keine Ausnahme machen. Eine Abschiebung in die Heimat, also nach Russland, findet aber noch seltener statt als die Rückschiebung nach Polen. Im vergangenen Jahr wurden 110 Tschetschenen nach Russland abgeschoben. Das ist rund ein Prozent derer, die im gleichen Jahr gekommen sind.
Tschetschenische Männer gelten als besonders gewaltbereit
Die Tschetschenen gelten den Behörden als eine besonders schwierige Gruppe. Die tschetschenischen Gefährder, also Leute, von denen die Polizei annimmt, dass sie Terroranschläge ausführen könnten, sind dabei nur eine ganz kleine, wenn auch besonders gefährliche Fraktion. Andere Probleme wiegen ebenso schwer: In den Erstaufnahmeeinrichtungen gelten die tschetschenischen Männer als besonders gewaltbereit. Immer wieder kommt es zu Prügeleien oder Messerstechereien zwischen Tschetschenen einerseits und Syrern oder Afrikanern, etwa aus Kamerun oder Tschad, andererseits. „Treffen die Tschetschenen auf Nordafrikaner, ist der Ärger schon programmiert“, heißt es im Brandenburger Innenministerium.
Der Hang zur Gewalt hat mit der Kriegermentalität, dem Ehrenkodex und dem ausgeprägten Machogehabe der Tschetschenen zu tun. Zudem bleiben die Clan-Strukturen, in denen sich die Tschetschenen organisieren, auch außerhalb der Heimat erhalten. Das bekommen auch die Asylunterkünfte zu spüren. Mitunter reisen Gruppen von Tschetschenen von außen zu den Aufnahmelagern, um Rache zu nehmen an jenen, die ihre Landsleute beleidigt oder angegriffen haben sollen.
In Brandenburg hat das dazu geführt, dass die Tschetschenen aus dem Erstaufnahmelager Eisenhüttenstadt in eine eigene Außenstelle überführt wurden, in der sie nicht mehr mit anderen Asylbewerbern untergebracht sind. Ein Problem bleibt auch in dem neuen Heim, dass tschetschenische Männer ihre Frauen oder Kinder verprügeln. Auch Fälle von Gefährdung des Kindeswohls kommen immer wieder vor, etwa weil Mütter ihre Kleinkinder über Stunden unbeaufsichtigt lassen.
Warum verlassen so viele Tschetschenen ihre Heimat?
In der organisierten Kriminalität in Deutschland spielen Tschetschenen seit Jahren eine große Rolle. Bei Schutzgelderpressung, Raub und der Verteidigung von Geschäftsbezirken gegen andere kriminelle Banden sind sie stark vertreten, oft agieren sie auch im Auftrag anderer ethnischer Clans. Im November fand eine Razzia gegen sechzehn Tschetschenen in mehreren sächsischen Städten, aber auch in Thüringen und Rheinland-Pfalz statt; ihnen wird die Gründung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen.
Warum verlassen so viele Tschetschenen ihre Heimat und kommen nach Deutschland? Als Grund gilt meist, dass der heutige Herrscher in Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, mit eiserner Hand regiert. Kadyrow hat seinen Verwandten und Getreuen die einträglichsten Posten in der Republik verschafft, gegen Gegner geht er rücksichtslos vor. Rechtsstaatliche Verhältnisse gibt es in Tschetschenien nicht, Kadyrows bewaffnete Einheiten machen ungestraft, was ihnen passt. So läuft das allerdings schon seit Jahren.
Wie kommt es also, dass es immer neue Ausreisewellen gibt? Bei der ersten großen Welle von 2012 und 2013 spielten Gerüchte eine Rolle, dass Tschetschenen in Deutschland ein Begrüßungsgeld, ein Haus oder ein Grundstück erhielten. Unklar ist allerdings, wer die Gerüchte streute und warum es in der rigide kontrollierten Republik zugelassen wurde, dass sie sich verbreiteten. Ungewiss ist zudem, ob die Tschetschenen, die nach Deutschland kamen, das mit den Geschenken in Deutschland wirklich glaubten.
Nach Einschätzung mancher Sicherheitsbehörden waren die nahenden Olympischen Winterspiele in Sotschi ein Grund dafür, dass Russland viele Ausreisen zuließ, um auf diese Weise unzufriedene Elemente loszuwerden. Damals reagierten die deutschen Behörden auf verschiedene Weise. Das Bamf startete eine Aufklärungskampagne in Tschetschenien, die den Gerüchten widersprach. Die Bundespolizei und das Bundesamt für Verfassungsschutz führten Gespräche mit ihren russischen Partnerinstitutionen, in denen sie das Problem der Massenzuwanderung thematisierten.
Tatsächlich kam es 2014 zu einem Rückgang: Statt mehr als 15000 wurden nur noch gut 5500 Asylanträge aus Russland registriert. 2015 setzte allerdings eine neue Reisewelle ein, die 2016 ihren Höhepunkt erreichte. Hatte sie damit zu tun, dass die Tschetschenen sahen, dass Deutschland nun Muslime in großer Zahl aufnahm? In Sicherheitskreisen heißt es, bei Hunderten Tschetschenen, die 2016 einreisten, lasse es sich nachweisen, dass sie 2013 schon einmal nach Deutschland gekommen seien.
Es lohnt sich für Moskau, die Tschetschenenkarte zu spielen
Eine Erklärung für die Reisewellen, die dort außerdem gegeben wird, lautet: Russland hatte kein Interesse, diesen Zustrom illegaler Migranten nach Deutschland zu stoppen. Die Russen wollten den Deutschen vielmehr zeigen, dass sie ein Problem schaffen und es auch wieder abschaffen könnten. In der Flüchtlingsfrage, die Deutschland so tief spaltet, trugen sie so dazu bei, dass die dadurch entstandenen Probleme sich noch verstärkten. Deshalb lohnt es sich für Moskau, die Tschetschenenkarte zu spielen. Bei Verhandlungen mit den Russen, in denen die deutsche Seite darauf drang, den Zustrom von Tschetschenen zu unterbinden, ließ die russische Seite unter anderem wissen, dass es sich bei den Tschetschenen gar nicht um solche aus der russischen Kaukasusrepublik, sondern um Tschetschenen aus Kasachstan handele.
Das aber trifft nicht zu – zumal die Tschetschenen in Kasachstan, wohin sie während des Zweiten Weltkriegs von Stalin deportiert worden waren, gerade noch 0,2 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Als Beispiel für das Vorgehen der Russen wird auch auf die Flüchtlinge verwiesen, die 2015 über die sogenannte Polarroute nach Finnland und Norwegen gelangten. Sie durchquerten ein Gebiet, das zuvor als Sperrzone gegolten hatte. Erst als die Regierungen in Helsinki und Oslo mit Moskau verhandelten, wurde die Route wieder dicht gemacht.
Migration als Waffe? Beweisen lässt sich das kaum. Die Bundespolizei teilt auf Anfrage mit, dass ihr „keinerlei Hinweise“ vorliegen, dass die Reisewellen aus Tschetschenien gesteuert werden. Sicher ist: Die Reisen von Tausenden Tschetschenen über Weißrussland nach Polen bleiben den russischen Behörden und Nachrichtendiensten nicht verborgen. Der russische Geheimdienst FSB hat vor wenigen Tagen erstmals seit 1995 wieder Kontrollen an der Grenze zu Weißrussland eingeführt. Ob dadurch weniger Tschetschenen nach Deutschland kommen werden, ist allerdings völlig unklar. Die Erfahrungen mit Russland in der Frage der illegalen Migration fasst ein Fachmann in der Regierung so zusammen: „Was den Deutschen Probleme bereitet, das ist für die Russen ein Trumpf im Ärmel.“