Ein Leben in vier Systemen : Doch, es war schlimm!
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Den 9. Oktober 1989 erlebte er wie im Rausch: Cornelius Weiss Bild: Busse, Christoph
Der Chemiker Cornelius Weiss wuchs im „Dritten Reich“ und in der Sowjetunion auf. Nach dem Krieg zieht er mit seinen Eltern nach Leipzig und wird dort später Rektor an der Universität.
Der Bauzaun ist fast abgetragen, die Fassade glänzt, aber noch immer harrt das Paulinum in Leipzig seiner Eröffnung. Der als Aula und Andachtsraum gedachte Prestigebau der Universität hätte schon vor drei Jahren, zum 600. Geburtstag der Hochschule fertig sein und dem Augustusplatz mit Neuem Gewandhaus und Oper das vollständige Antlitz zurückgeben sollen. Spitzgiebel und gotisches Rosettenfenster sind bereits gut sichtbar, beide erinnern an die Universitätskirche St. Pauli, die hier einst stand. Die Bauverzögerung ärgert Cornelius Weiss, aber er kommt gerne hierher, denn der Ort ist für ihn Heimat.
Weiss, 79 Jahre alt, braungebrannt und von drahtiger Statur, ist eben von Hiddensee zurück, wo er seit Jahrzehnten seine Ferien verbringt. Die Universität und vor allem ihre Kirche sind ein wesentlicher Teil seines Lebens; hier hat er großes Glück und abgrundtiefe Barbarei erfahren. Aber das weiß er nicht, als er am 27. März 1955, einem Sonntag, mit Eltern und Geschwistern die Kirche betritt. Das „Erste Universitätskonzert im Frühjahrssemester 1955“ ist auf der Eintrittskarte angekündigt, die er aufgehoben hat. Der Leipziger Universitätschor führt Bachs „Johannespassion“ auf, und das „war eine Offenbarung“, sagt Weiss: „Da fühlten wir, dass wir wieder zu Hause sind.“
Erst wenige Tage zuvor war die Familie aus der Sowjetunion zurückgekehrt. Sie alle tragen noch „russische Klamotten“, Stoffschuhe, Mäntel, unförmige Anzüge, aber dass sie wieder da sind, empfinden Eltern und Kinder als großes Glück. 1945 hatte Weiss’ Vater, der Atomphysiker Carl Friedrich Weiss, sich - nicht ganz freiwillig - verpflichtet, für zwei Jahre in die Sowjetunion zu gehen, um als eine Art Wiedergutmachung beim Aufbau friedlicher Kernforschung zu helfen. Einem ähnlichen Angebot der Amerikaner für das Atomforschungszentrum Los Alamos hatte er sich zuvor noch durch Flucht entzogen.
Eine Quittung für Radium
Die Alliierten wussten über Carl Friedrich Weiss Bescheid, denn der war Leiter der Abteilung Atomphysik in der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt (PTR) und damit verantwortlich für exakt 21,8 Gramm eines Stoffes, auf den es sowohl Russen als auch Amerikaner abgesehen hatten: die gesamte Reichsradiumreserve im Wert von rund zwei Millionen Dollar. Das Radium lagerte in einem schweren Bleibehälter in einem Stollen bei Ronneburg in Thüringen, wohin die PTR und mit ihr die Familie Weiss wegen der Bombenangriffe auf Berlin gebracht worden waren.
Im Frühjahr 1945 soll Weiss mit zwei Kollegen im Auftrag des Thüringer Gauleiters Sauckel die Radiumreserve auf den Obersalzberg schaffen. Als die SS-Wachen südlich von Bad Tölz angesichts der nahenden Front das Weite suchen, vergraben die Wissenschaftler den Behälter kurzerhand im Wald. Wenige Wochen später muss Weiss die Strecke wieder abfahren - auf Anweisung der Amerikaner, die Thüringen besetzt haben und das Radium bergen wollen. Am 27. Juni 1945 meldet die „New York Times“: „All Reich’s Radium in Americans’ Hands“. Und noch etwas verrät der Artikel: Als Belohnung habe sich Weiss gewünscht, Charlie Chaplins Film „Der große Diktator“ zu sehen.
„Mein Vater hat sicher getan, was ihm sein Gewissen riet, aber er hat zeit seines Lebens darüber geschwiegen“, sagt Cornelius Weiss. Erst durch Recherche in Archiven und Befragen von Kollegen, Freunden und Familie erfuhr er die Einzelheiten der Radiumübergabe, die er in seiner Autobiographie „Risse in der Zeit“ schildert. Immerhin ließ sich Weiss senior von den Amerikanern eine Quittung ausstellen, die er Wochen später sowjetischen Behörden, die nun in Thüringen das Sagen haben, vorlegt, als die von ihm ebenfalls das Radium verlangen.