Debattenbeitrag : Linke Heuchler
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Stefan Zweig hätte den neuen Spießer wohl als „Kaffeehaus-Komplotteur“ bezeichnet Bild: Robert Bochennek
Sie protestieren gegen Chlorhühnchen, aber nicht gegen Putin. Während sie ihre eigene Verbürgerlichung leugnen, halten sie sich für eine kritische Minderheit. Dieser spießige linke Mainstream in unserem Land verachtet die Demokratie. Ein Debattenbeitrag.
Jüngst stand ein einsamer Demonstrant vor der chinesischen Botschaft in Berlin und hielt ein Plakat hoch. Es zeigte das berühmte Foto vom 4. Juni 1989 mit dem ebenfalls einsamen Mann vor dem Panzer auf dem Pekinger Tiananmen-Platz. Außer dem Demonstranten vor der Botschaft ließ sich am Jahrestag der mörderischen Niederschlagung der Protestbewegung niemand blicken. Schon gar nicht zeigten sich jene bekenntnisfreudigen Prominenten, die sich stets gern für eine gute Sache ablichten lassen, ebenso wenig die Berufsprotestler von Campact & Co., weder Ostermarschierer noch die Antifa, weder Gregor Gysi noch Margot Käßmann. Das von der Kommunistischen Partei Chinas befohlene Massaker, mit dem vor einem Vierteljahrhundert der chinesischen Freiheitsbewegung ein brutales Ende gesetzt wurde, interessiert in der deutschen Party-Hauptstadt 2014 keinen Menschen.
Auch vor der russischen Botschaft sieht man die auf Protest und Betroffenheit abonnierten Politaktivisten und Talkshow-Promis nicht. Unmittelbar nach der Okkupation der Krim hatten sich dort gerade mal ein paar hundert Menschen, überwiegend Exilukrainer, versammelt. Selbst die planvolle Zersetzung der Ostukraine, Putins Lügenpropaganda und der ebenso unverschämte wie zynische Machtanspruch Moskaus sorgen für keinerlei demokratische Erregung in der deutschen Wutbürgerszene. Im Gegenteil. Statt Putins aggressives Vorgehen anzuprangern, werden dem Westen, der EU und der Nato „Kriegstreiberei“ und „Kumpanei mit Faschisten“ vorgeworfen - genau das also, was Putin betreibt. Verkehrte Welt, eine klassische Projektion.
Morbus Kreuzberg im fortgeschrittenen Stadium
Dafür haben all die Putinversteher, Freiheitsverächter, Kabarettprediger, Montagsdemonstranten, Hassblogger, Meinungsagenten und Verschwörungstheoretiker von rechts bis links eines gemeinsam: eine tiefsitzende Verachtung der westlichen Demokratie. Sie haben deutlich mehr Verständnis für den Macho-Autokraten Putin als für die frei gewählten Regierungen Westeuropas. Osteuropa, vor allem Polen, die Tschechische Republik und die baltischen Staaten, einst die ersten Opfer Hitlers, sind ihnen herzlich egal.
Erschütternd ist vor allem das schamlose Verwischen der Unterschiede, besser: der Gegensätze von Demokratie und Diktatur, Freiheit und Unfreiheit - ein zynischer Relativismus, der die Prinzipien der europäischen Aufklärung an den denkbar dümmsten Obskurantismus verrät. Während die halbe Welt voller Erwartung nach Europa schaut, blüht hierzulande eine bedrohliche Geschichts- und Selbstvergessenheit. Inmitten von Zuständen, die im weltgeschichtlichen Vergleich paradiesisch zu nennen sind, wächst eine Ignoranz heran, deren Schwester der Wahnsinn ist. Einzelne Motive erinnern an die zwanziger Jahre, als viele den Untergang des verhassten demokratischen „Systems“ gar nicht erwarten konnten. Am Ende führte eine reaktionär-missgelaunte Gleichgültigkeit zum verheerenden Triumph des Nazi-Fanatismus, der Europas Freiheit unter sich begrub.
Bei allen historischen Unvergleichbarkeiten - auch heute ist das irrlichternde antiparlamentarische und antiwestliche Ressentiment nicht zuletzt der Reflex eines eigentümlichen Selbsthasses, der die Gesellschaft, in der man lebt, einschließt. Gerade weil man sich die offenkundige Verbürgerlichung der eigenen Existenz nicht eingesteht, hält man an den Positionen von früher fest, als alles noch schön klar war, mit und ohne Che Guevara. Im Extremfall kann das zum akuten Ströbele-Syndrom führen, zum Morbus Kreuzberg: Denkfaulheit im fortgeschrittenen Stadium.