
Debatte über das Sitzenbleiben : Gleichmacherei und Illusionen
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Kinder wollen sich messen und wissen, ob es sich überhaupt lohnt, sich anzustrengen. Bild: dapd
Wer das Sitzenbleiben abschafft, muss auch die Noten beseitigen. Oder gleich die ganze Schule. Ein Kommentar.
Das Sitzenbleiben gehörte für viele Schülergenerationen zum Schulalltag, seit den siebziger Jahren ist es zum Streitfall geworden. Auch damals hatte sich eine niedersächsische Kultusministerin mit dem Vorschlag vorgewagt, das Sitzenbleiben abzuschaffen. Es war Renate Jürgens-Pieper (SPD), die spätere Schulsenatorin Bremens. In der Kultusministerkonferenz stieß sie noch auf Widerstand, inzwischen hat sich das durch die „vorausschauende“ Bildungspolitik der Union geändert. Dort streitet nämlich allein auf weiter Flur der bayerische Kultusminister Spaenle gegen das Sitzenbleiben.
1974 blieben noch 400.000 Schüler im Jahr sitzen, inzwischen sind es weniger als die Hälfte, nur ein Prozent der Schüler, während in manchen Ländern noch immer bis zu elf Prozent die Schule abbrechen. Das ist die weit beunruhigendere Zahl, die eher eine Ursachenbetrachtung lohnte.
Befreiung statt Demütigung
Das Sitzenbleiben ist und war für Schüler immer eine ambivalente Erfahrung. Es gibt sie wirklich, die Spätentwickler, vornehmlich unter den Jungs, ob in der Grundschule oder in der Sekundarstufe I. Für sie muss es nicht auf eine „Demütigung“ hinauslaufen, wie jetzt getan wird, wenn sie eine Klasse wiederholen müssen. Es kann, im Gegenteil, eine echte Befreiung sein, in einer neuen Lerngruppe mit neuen Lehrern eine weitere Chance zu bekommen.
Die Schule feuert den Schüler nicht, sie behält ihn und der Schüler könnte ein Stigma loswerden. Keine Schule lässt heute noch leichtfertig einen Schüler sitzen, sie bespricht das offen mit den Eltern, sie sucht auch nach anderen Schulformen, die möglicherweise besser geeignet sein könnten. Wer in allen drei Fremdsprachen eine Fünf hat, ist möglicherweise auf dem neusprachlichen Gymnasium fehl am Platze.
Eine Symptomdebatte
Die Gymnasiasten bilden übrigens gar nicht die größte Gruppe unter den Klassenwiederholern. Viel größer ist der Anteil der Haupt- und Sekundarschüler, die aufgrund ihres fortgesetzten Schulschwänzens sitzenbleiben. Diese Schüler werden aber nicht deshalb am Unterricht teilnehmen, weil das Sitzenbleiben abgeschafft ist. Wie so oft, ist auch der Streit über das Sitzenbleiben eine Symptomdebatte.
Das Mantra, das seit neuestem alle Schulprobleme bekämpfen soll, ist die individuelle Förderung. Abgesehen davon, dass kein Lehrer weiß, wie er solche Einzelbeglückung dreißig Schülern unterschiedlichster Leistungsstufen in der knapp bemessenen Unterrichtszeit angedeihen lassen soll, bleibt sie Utopie, solange sie nicht finanzierbar ist. Sie ließe sich allenfalls an Schulen mit mindestens 105 Prozent Lehrerversorgung und mehr organisieren. Schulleiter können davon nur träumen. Sie können in vielen Schulen nicht einmal für die Krankheitsvertretungen sorgen. Die Länder sind nicht in der Lage, eine solche intensive Betreuung zu bezahlen - sie und die Kommunen haben schon damit zu kämpfen, den Aufwand für Ganztagsschulen und für die Inklusion zu finanzieren.
Auch die jetzt wieder angestoßene Debatte läuft deshalb ins Leere. Wer das Sitzenbleiben abschaffen will, müsste auch die Notengebung beseitigen und es unmöglich machen, durch Prüfungen zu fallen. Die Schule sollte aber gerade der Ort sein, an dem Kinder und Jugendliche lernen können, mit dem Erlebnis der eigenen Unfähigkeit konstruktiv umzugehen. Wer das zum ersten Mal im Berufsalltag erfährt, ist ausgeliefert, stellt sich selbst in Frage und scheitert am Ende ganz.
Sozialstaatliche Beglückungsphantasie
Die Beseitigung des Sitzenbleibens, die Abschaffung von Noten, die Abwertung von Bildungszertifikaten vom Abitur bis zum Hochschulabschluss gehören zu einer sozialstaatlichen Beglückungsphantasie, die kollektiven Aufstieg und gesellschaftliche Gleichheit über Bildung garantieren will und sich längst als Illusion erwiesen hat.
Für diese Zwecke wird die Schule instrumentalisiert, die angeblich erst dann gerecht sein kann, wenn sie Individuen gleichmacht und keinerlei Unterschiede mehr zulässt. Ausgerechnet individuelle Betreuung soll das erreichen. Schulen werden aber immer Differenz erzeugen, ganz gleich, um welche Schulformen es sich handelt. Gerecht geht es in ihnen nur zu, wenn unterschiedliche Individuen auch unterschiedlich behandelt werden. Leistungsbeurteilung bemisst sich an universalistischen Standards und ist genau darin gerecht.
Es ist übrigens auch gerecht, dass Schulen jedem Schüler, gleich welcher Herkunft, gleich welcher Begabung, das gleiche Angebot machen und ihm die Möglichkeit geben, sich an überindividuellen Standards zu messen. Alles andere wäre Betrug an den Schülern und am Wesen der Schule selbst. Es hieße nämlich, die unterschiedlichen Neigungen und Interessen von Kindern zu leugnen und sie zu nivellieren.
Es wäre auch nicht kindgerecht. Kinder wollen wissen, ob sie etwas richtig machen und ob es sich überhaupt lohnt sich anzustrengen. Sie messen sich mit ihren Klassenkameraden und wissen bald, was sie gut und weniger gut können. Wenn das Schulwissen sich nicht mehr vom Alltagswissen unterscheidet, wenn es Alltagswissen nicht überformt, in Frage stellt, korrigiert, gibt es keinen Grund mehr, überhaupt noch in die Schule zu gehen.