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Ende des Corona-Shutdowns : So könnte sich Deutschland in die Normalität zurücktasten

Polizeibeamte stehen am nahezu menschenleeren Pariser Platz vor dem Brandenburger Tor Bild: dpa

Die jüngste Stellungnahme der Regierungsberater der Leopoldina lotet die Möglichkeiten für eine nationale Exit-Strategie aus den Corona-Beschränkungen aus. Handlungsleitend bleibt, eine zweite Infektionswelle unbedingt zu verhindern.

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          Die Chancen für ein vorsichtiges, schrittweises Lockern der Kontaktbeschränkungen sind mit der Vorlage eines neuen Gutachtens der Nationalakademie der Wissenschaften Leopoldina deutlich gestiegen. Die Leopoldina hat mit ihren vierzigköpfigen Arbeitsgruppen die mittlerweile dritte Stellungnahme zur Corona-Pandemie vorgelegt. Und es ist nach den beiden ersten gesundheitspolitischen Empfehlungsschreiben das erste Papier, das aus Sicht vieler wissenschaftlicher Disziplinen die Möglichkeiten für eine nationale Exit-Strategie ausgelotet hat.

          Joachim Müller-Jung
          Redakteur im Feuilleton, zuständig für das Ressort „Natur und Wissenschaft“.

          „Die Krise nachhaltig überwinden“ lautet der Titel, und der entscheidende Begriff darin ist nachhaltig. Er bedeutet nicht, dass die Pandemie-Beschränkungen schnellstmöglich aufgehoben werden sollten und das normale gesellschaftliche Leben für den größeren Teil der Bevölkerung wiederhergestellt werde, während etwa die älteren und vom neuen Coronavirus besonders bedrohten Risikopersonen weiter abgeschottet werden sollen. Eine vorbeugende Abschottung einzelner Bevölkerungsgruppen allein zu deren eigenem Schutz, sei, so heißt es in der 18 Seiten langen Stellungnahme, „als paternalistisches Bevormundung abzulehnen.“ Vielmehr setzt die Nationalakademie darauf, dass dort, wo die wichtigsten Hygieneregeln wie Abstandhalten und Mund-Nase-Schutz leicht zu realisieren sind, „schrittweise das öffentliche Leben wieder normalisiert wird und gleichzeitig die Maßnahmen zur Kontrolle und das Monitoring der Sars-CoV-2-Seuche an vielen Stellen durch digitale Apps und dem Ausbau von Tests schnellstmöglich verbessert wird. Die ersten Erleichterungen könne es etwa für kleinere Einzelhandelsgeschäfte, Behörden oder Gaststätten geben, in denen die Bestuhlung die Einhaltung der Distanzregeln erlaubt. Großveranstaltungen im Sport- wie im Kulturbereich halten die Wissenschaftler für weiterhin zu riskant.

          Voraussetzung für den Einstieg in ein allmähliches Ende des Shutdowns sei, dass sich „die Neuinfektionen auf einem niedrigen Niveau“ stabilisieren und die Schutzmaßnahmen „diszipliniert eingehalten“ würden. Es gelte, unbedingt eine zweite Infektionswelle zu verhindern und weiter Reservekapazitäten in den Kliniken aufzubauen, damit auch die anderen Patienten, die nicht an Covid-19 leiden, wieder regulär aufgenommen und behandelt werden könnten.

          Der Gesundheitsschutz steht also auch bei der Leopoldina weiterhin im Vordergrund. Allerdings wird auch sehr deutlich darauf gedrängt, für diesen Zweck nicht die Nachteile des gesellschaftlichen Herunterfahrens billigend in Kauf zu nehmen und auf die „Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen“ zu achten. Deutschland befinde sich formal nicht in einem Ausnahmezustand, gleichzeitig greife der Staat in eine Reihe von Grundrechten ein. Betroffen sind nicht nur allgemeine Bewegungsfreiheit und Freizügigkeit, sondern auch die Versammlungs- und Religionsfreiheit sowie die zentralen wirtschaftlichen Grundrechte der Berufs- und Eigentumsfreiheit. Das sei angesichts des großen Zeitdrucks, unter dem die Politik handeln musste, nachvollziehbar. Doch „wegen der Schwere und Dauer der Grundrechtsbeschränkungen ist es nun geboten, über Alternativen und mögliche Lockerungen nachzudenken, ohne das Schutzziel aus den Augen zu verlieren“.

          Im Bildungsbereich hat die Leopoldina-Arbeitsgruppe fast schon eine Art Fahrplan vorgelegt. Die Wiedereröffnung der Schulen sollte demnach „sobald wie irgend möglich erfolgen“. Allerdings ist auch hier an eine schrittweise Normalisierung gedacht. Höhere Jahrgangsstufen, die das Lernen eher selbstorganisiert und ohne Face-to-face-Unterricht schaffen könnten, sollten wie die Kindergärten und –horte, die als besondere Ausbreitungsorte des Virus betrachtet werden, zuletzt in den Normalbetrieb zurückkehren.

          Schutzmasken und Apps gegen die Ausbreitung

          Zu einer der wichtigsten Voraussetzung für die Kontrolle des Infektionsgeschehens erhebt die Akademie neben dem Tragen von Schutzmasken, das in Zügen verpflichtend werden sollte, die flächendeckende Nutzung von Tracking- und Kontakt-Tracing-Apps. Mit diesen digitalen Maßnahmen sollte der Infektions- und Immunitätsstatus der Bevölkerung substantiell verbessert werden. Dazu gehören auch Querschnittstudien im Land. Mit künftig gezielteren Antikörper- und Virentests sollte möglichst schnell erfasst werden, wann es zu neuen Ausbrüchen kommt. Bei der Datensammlung mit Smartphone-Apps plädiert die Leopoldina dafür, die datenschutzrechtlichen Bedenken, die bei der Erfassung von Gesundheitsdaten und GPS-Daten bestehen, hintanzustellen und auf die Freiwilligkeit der Menschen zu setzen. Es sei entscheidend, Daten in Echtzeit zu erfassen. Europäische Datenschutzgesetze, die dem Ziel entgegenstehen, könnten nach der Überwindung der Pandemie immer noch geändert werden. Um das Vertrauen in die Datenerfassung und –aufbereitung zu stärken, könnte die Politik einen staatlichen „Datentreuhänder“ einsetzen, der die Vertraulichkeit der Datennutzung garantiert. Deutschland sollte in den kommenden Monaten jederzeit in die Lage versetzt werden, den Verlauf der Pandemie ein bis zwei Wochen im Voraus einigermaßen verlässlich voraussagen und plötzliche Ausbrüche schnell kontrollieren zu können.

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