Deutsche Corona-Eindämmung : Der Shutdown ist unausweichlich
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Die Leere als Vorbild: In Sloweniens Hauptstadt Ljubljana wurde ein Shutdown schon verhängt. Bild: EPA
Es ist höchste Zeit für drastische Maßnahmen in Deutschland. Die Kapazitäten der Intensivmedizin dürften bald gesprengt werden. Das lehren diverse Beispiele in Europa. Ein Gastbeitrag zweier Risikoethiker.
Die Politik scheint verstanden zu haben. Nachdem Anfang letzter Woche noch über die Absage von Fußballspielen diskutiert wurde, werden jetzt immer drastischere Maßnahmen verhängt, um die Covid-19-Pandemie einzudämmen.
Doch die Maßnahmen kommen spät, vermutlich zu spät. Die Infektionswelle ist in Deutschland bereits in vollem Gang, so dass nur noch ein landesweiter Shutdown – also eine vorübergehende Stilllegung aller öffentlichen Aktivitäten – infrage kommt, um unsere Intensivstationen vor dem Kollaps zu bewahren und Menschenleben zu retten. Andernfalls fällt das Recht auf Gesundheit, denn auch Herzinfarkte können dann nicht mehr garantiert behandelt werden. Das ist in Italien bittere Realität. Es geht um die Menschenwürde.
Staaten, in denen die Ausbreitung des Virus nur einige Tage früher begann, haben den Shutdown bereits durchgeführt oder eingeleitet. Neben Italien haben Frankreich, Spanien und Österreich nun sämtliche Geschäfte geschlossen und das soziale Leben komplett eingefroren – Deutschland hinkt hinterher. Das ist hochgefährlich, denn wir nehmen damit einen ungebremsten Anstieg der Fallzahlen in Kauf.
Die vertikale Achse auf unserer Grafik zeigt die Anzahl der zu erwartenden Intensivpatienten. Dafür legen wir die Annahme zugrunde, dass 2,5 Prozent der dokumentierten Corona-Infizierten einer intensiven Behandlung bedürfen. In China betrug diese Zahl fünf Prozent, in Italien beträgt sie gegenwärtig acht Prozent. Aus verschiedenen Gründen ist es wahrscheinlich, dass die Zahl in Deutschland niedriger liegen wird. Es wäre jedoch fahrlässig, sie unterhalb von 2,5 Prozent anzusetzen.
Selbst ein Shutdown heute wirkt erst in zehn Tagen
Die bisherige Wachstumsrate der Fallzahlen – täglich 32 Prozent – erschöpft die Kapazität an sogenannten Intensivbetten mit Beatmungsmöglichkeit in weniger als zwei Wochen. Können wir dieses Wachstum mit geeigneten Maßnahmen auf zwanzig oder gar zehn Prozent senken, so wäre die rote Linie im April beziehungsweise im Mai erreicht. Auch nach einem kompletten Shutdown wachsen die Fallzahlen jedoch noch während rund zehn Tagen mit der ursprünglichen Rate weiter.
Mit anderen Worten: In Deutschland wird die rote Linie wahrscheinlich durchbrochen. An diesem Punkt werden Menschen sterben, die unter normalen Umständen gerettet werden könnten.
Das Beispiel Lombardei
Auch das Beispiel der Lombardei zeigt, dass eine Überlastung nicht nur möglich, sondern in allen westlichen Ländern wahrscheinlich ist. Der Norden Italiens verfügt über eine gute intensivmedizinische Infrastruktur. Covid-19 hat die Kapazitäten dennoch sofort gesprengt. Christian Drosten, der Chefvirologe der Charité, warnte deshalb bereits vor Tagen davor, dass es Deutschland wie Italien ergehen könnte.
Es ist schwierig genau zu bestimmen, wie schnell die Kapazität der rund 28.000 Intensivbetten in Deutschland tatsächlich erreicht wäre. Unklar ist etwa, wie lange Covid-19-Intensivpatienten im Durchschnitt behandelt werden müssen. Internationale Studien liefern Werte zwischen einer und zwei Wochen. Geplante operative Eingriffe können aufgrund der Corona-Notlage verschoben werden, aber die so erwirkte Kapazitätserhöhung hält sich in Grenzen, weil nach planbaren Eingriffen ohnehin oft nur kurze intensivmedizinische Betreuungen notwendig sind.
Außerdem ist es wahrscheinlich, dass sich ein Teil des ohnehin knappen medizinischen Personals selbst infizieren und ausfallen wird. Die Quarantänevorschriften für das Personal, das infiziert sein könnte, werden in manchen Krankenhäusern schon jetzt nicht mehr eingehalten. Die Krankenhäuser müssen reorganisiert, ganze Abteilungen abgeriegelt werden. Die Schutzkleidung ist knapp. Zur Frage, wie lange sie ausreicht, machen die Unikliniken sehr unterschiedliche Angaben.
Viele freie Betten in Hamburg, wenige in Augsburg
Die regionalen Unterschiede sind groß. Beispielsweise waren vergangene Woche in den Unikliniken in Hamburg und Leipzig weniger als vierzig Prozent der Beatmungsplätze belegt, in Augsburg und Greifswald aber mehr als neunzig Prozent. Für die Kapazitätsgrenze ist nicht nur entscheidend, dass Beatmungsplätze verfügbar sind, sondern dass sie räumlich erreicht werden können. Es ist daher vernünftig, zum Eintritt der Krise mit intensivmedizinischen Kapazitäten von lediglich 5000 Betten zu rechnen.
Angesichts dieser Unsicherheiten wäre es unverantwortlich, darauf zu vertrauen, dass optimistischere Abschätzungen der Kapazitäten zutreffen werden. Wir dürfen hier nicht mit dem Feuer spielen. Deutschland hat noch die Möglichkeit, vom mahnenden Beispiel anderer Länder zu lernen. Dort kam der totale Shutdown zu spät, nämlich als die Katastrophe ihren Anfang bereits genommen hatte.
Das gilt ohne Zweifel für Italien, wo manche Beteiligte von kriegsähnlichen Zuständen sprachen. In Spanien ist die Entwicklung der Fallzahlen sogar noch dramatischer. Leider führt die spanische Regierung den Shutdown gerade erst durch. Da seine Wirkung zeitverzögert eintritt, ist auch in Spanien der Kollaps der Intensivstationen unausweichlich.
Wer glaubt, das könne hierzulande nicht geschehen, irrt. Deutschland befindet sich im Wesentlichen auf derselben Kurve wie Italien und Spanien. Die weitere Ausbreitung des Coronavirus ist gut berechenbar. Die Gefahr, dass die deutschen Intensivstationen überlaufen, ist real. Das macht den Shutdown risikoethisch unvermeidbar. Die Frage ist, wie lange wir noch warten – und wie viele Tote wir durch den Aufschub des Unausweichlichen unnötig in Kauf nehmen.
Nikil Mukerji ist Ökonom und Ethiker. Er ist Geschäftsführer des Studiengangs „Philosophie Politik Wirtschaft“ an der LMU München.
Adriano Mannino ist Philosoph und Sozialunternehmer. Er forscht im Bereich der Risikoethik und ist freier wissenschaftlicher Mitarbeiter der Parmenides Stiftung in Pullach sowie des Daten-Unternehmens Novalytica.