Im Kühlraum des Krematoriums Dresden-Tolkewitz: Mit Kreide geschrieben steht „Covid-19“ auf Särgen mit Verstorbenen, die an oder mit dem Coronavirus gestorben sind. Bild: dpa
Bis in den Herbst starben im vergangenen Jahr insgesamt kaum mehr Menschen als 2019. Zuletzt jedoch stiegen die Sterbezahlen deutlich. Was sagt das über die Gefährlichkeit des Coronavirus? Ein Fachmann im Interview.
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Herr zur Nieden, das Statistische Bundesamt hat kürzlich eine Sonderauswertung zur Übersterblichkeit im November vorgelegt. Warum sind Statistiker so gespannt auf diese Zahlen?
Mit diesen Daten ist es möglich, die Entwicklung der Sterbefälle unabhängig von der genauen Todesursache zu bewerten. Bei den Gesamtsterbefallzahlen haben wir zwar saisonale Schwankungen, aber Anhaltspunkte für einen erwartbaren Verlauf, der sich aus dem Durchschnittswert der Vorjahre von 2016 bis 2019 ergibt. Und wenn 2020 mehr Menschen sterben als erwartet, haben wir einen relativ klaren Befund. Im November lag die Übersterblichkeit nach bisher vorliegenden vorläufigen Zahlen bei 11 Prozent, sie stieg von Woche zu Woche auf 14 Prozent in der letzten Novemberwoche. Das ist ein ungewöhnlich hoher Wert für diese Jahreszeit. Bei den bislang vorliegenden Ergebnissen handelt es sich um eine reine Fallauszählung ohne Prüfung und Vollständigkeitskontrolle.
Ist es denn überhaupt sinnvoll, alle Todesfälle in einen Topf zu werfen? Müsste man nicht wenigstens Verkehrsunfälle und Morde herausrechnen, wenn man etwa wissen möchte, wie viele Menschen an Corona gestorben sind?
Das können wir nicht, weil wir von den Standesämtern nur die Meldung bekommen, dass da jemand verstorben ist, ohne die Information zur Todesursache. Einzelne Ursachen wie Verkehrsunfälle herauszurechnen, wäre auch schwierig, weil es sich um indirekte Effekte des Lockdowns und damit der Pandemie handeln könnte. Man bekäme viele Definitionsprobleme – was rechnen wir da rein und was nicht? Aber der Rückgang der Verkehrsunfälle im Frühjahr spielt in der Gesamtbetrachtung auch kaum eine Rolle.
Was können wir aus Ihren Zahlen lernen, was wir nicht schon aus den Covid-Statistiken des Robert-Koch-Instituts (RKI) wissen?
Unsere Zahlen können zeigen, ob es eine unentdeckte Dunkelziffer gibt, also ob wirklich alle Corona-Todesfälle erfasst sind. Da die Sterbefallzahlen alle Todesfälle beinhalten, können sie zudem auch indirekte Auswirkungen der Pandemie widerspiegeln.
Gibt es eine solche Dunkelziffer?
In manchen anderen Ländern war die Übersterblichkeit viel größer als die offiziell gemeldeten Covid-Todesfälle. Daraus wurde geschlossen, dass dort zu wenig getestet wurde. Für Deutschland spielte das keine große Rolle, da passten die Befunde zur Übersterblichkeit und die Corona-Todeszahlen auch im Frühjahr schon ganz gut zusammen.
Wo liegen die Grenzen der Interpretation der Übersterblichkeit?
Wir sehen an den Sterbezahlen nicht, was passiert wäre, wenn die Politik keine oder weniger Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus getroffen hätte. Wir sehen nur, was tatsächlich passiert ist trotz all der Maßnahmen, die ja gerade zum Ziel hatten, zusätzliche Todesfälle zu verhindern. Die Übersterblichkeit gibt Hinweise darauf, wie gut das geklappt hat, auch im internationalen Vergleich. Deutschland steht hier nach den bisher vorliegenden Zahlen vergleichsweise gut da. Man kann aber nicht die grundsätzliche Gefährlichkeit des Coronavirus einschätzen, dafür muss man noch andere Daten etwa aus medizinischen Studien heranziehen.
Kritiker der Corona-Maßnahmen behaupten, die Schutzmaßnahmen hätten zu mehr Todesfällen geführt als das Virus selbst. Operationen seien verschoben worden, Patienten hätten sich nicht mehr zum Arzt getraut, manche seien an Vereinsamung verstorben. Ist das stichhaltig?