Randale in Chemnitz : Daniel H. war weder Hooligan noch AfD-Anhänger
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Gedenken an Daniel H. in Chemnitz Bild: Mai, Jana
Chemnitz ist im Ausnahmezustand. Rechte und Rechtsradikale instrumentalisieren den Tod von Daniel H. Über die eigentliche Tat und das Opfer spricht aber kaum jemand. Vielleicht auch, weil bei der Messerstecherei nicht nur die Täter, sondern auch die Opfer einen Migrationshintergrund haben.
Der Kreis aus Kerzen und Blumen wird stündlich größer. Das getrocknete Blut ist längst nicht mehr zu sehen, die Spuren der Tat sind schon seit Stunden unter den Symbolen der Anteilnahme begraben. Mehrere Hundert Menschen müssen an diesem Tag schon hierher gekommen sein, haben Kerzen angezündet und Blumen niedergelegt im Gedenken an den 35 Jahre alten Daniel H., der in der Nacht zum Sonntag an dieser Stelle blutend zusammenbrach, nach einem Messerangriff nur wenige Hundert Meter vom Wahrzeichen der Stadt entfernt, dem sieben Meter hohen Karl-Marx-Monument.
Etwas in Chemnitz hat sich verändert seit diesem Wochenende, seitdem bekannt wurde, dass zwei Migranten der Tat verdächtigt werden, ein 22 Jahre alter Syrer und ein 23 Jahre alter Iraker. Die Spannung, die über der Stadt liegt, spürt man auch am Dienstag noch am Tatort. Ein Mann von Mitte 40 bleibt etwas abseits des Kerzenmeers stehen. Es sei schon schlimm, sagt er. In manche Ecken der Stadt könne man abends nicht mehr gehen, seitdem die Bundesregierung vor bald drei Jahren die Flüchtlinge ins Land gelassen habe. Der Mann, Handwerker von Beruf, kommt selbst ursprünglich aus Usbekistan, aus einem Dorf keine 30 Kilometer von der Hauptstadt Taschkent entfernt. Doch er lebe nun seit 15 Jahren hier in Chemnitz, zahle Steuern, Deutschland sei auch sein Land inzwischen, und jene, die kürzlich erst gekommen sind, seien nicht nur Fremde, sondern allzu oft ein Problem.
Die Melange aus Trauer und Wut zeigt sich auch in den Botschaften, welche die Chemnitzer am Tatort hinterlassen haben. Auf einem Zettel wird der Verstorbene in blauer Tinte gewürdigt als „cool“, „lustig“, „nett“ und „hilfsbereit“. Gleich daneben, mit rotem Filzstift, fest aufgedrückt, ist die Tonlage eine andere: „Liebe Presse, ihr wollt den Chemnitzern helfen? Dann gebt ihnen die Zeit zu trauern.“ Die Unterzeichnerin ist nach eigenem Bekunden eine „Wutbürgerin ohne rechten Hintergrund“.
Die Emotionen der Chemnitzer sind aber nicht nur ein Produkt der Tat selbst, sie sind auch geschürt worden. Schon wenige Stunden nach der Tat veröffentlichte das Internetportal „Tag24“ eine Meldung, laut der H. getötet wurde, als er eine Frau gegen sexuelle Belästigung verteidigte. Das war eine Falschmeldung. Die Polizei erklärte, es gebe „keinerlei Anhaltspunkte, dass eine Belästigung der Auseinandersetzung vorausging“. Da war das Gerücht schon im Umlauf, die Stimmung zusätzlich aufgeheizt. Nicht nur fühlten sich viele Deutsche in ihrer Angst bestätigt, dass Ausländer morden und das noch mit Messern. „Das Abschlachten geht immer weiter“, schrieb etwa die AfD-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel am Montag auf Facebook. Viele sahen auch das Vorurteil des Migranten bestätigt, der sich an deutschen Frauen sexuell vergehen will. Die Eskalation nahm ihren Lauf.
Der AfD-Kreisverband Chemnitz veröffentlichte am Sonntag auf Facebook ein Foto der Blutlache und rief zu einer „Spontandemo“ um 15 Uhr am Tatort auf. Selbiges taten die rechtsradikalen Fußballhooligans von „Kaotic Chemnitz“, ihre Uhrzeit für das Treffen lautete 16:30 Uhr. Die AfD-Veranstaltung verlief friedlich, die der Hooligans nicht. Videos im Internet zeigen, wie Ausländer von Demonstranten angegriffen werden, insgesamt fünfzig Straftaten zählte die Polizei. Da war die Stimmung aber noch gar nicht auf ihrem Höhepunkt angelangt.
Am Montagabend folgte eine noch größere Mobilisierung. Die rechtspopulistische Bürgerbewegung „Pro Chemnitz“ rief zu einer Versammlung vor dem Karl-Marx-Denkmal nahe des Tatorts auf. Neben einfachen Bürgern, AfD-Vertretern, gewaltbereiten Hooligans, Pegida-Anhängern nahmen auch Mitglieder der rechtsextremistischen Kleinpartei „Der III. Weg“ daran teil, insgesamt 6000 Menschen. Es wurden Parolen wie „Wir sind das Volk!“ und „Widerstand! – Widerstand!“ gerufen. Ein Mitarbeiter der SPD-Geschäftsstelle der Stadtratsfraktion sah, dass viele Demonstranten – den Nummernschildern ihrer Autos nach zu urteilen – nicht aus Chemnitz und Umgebung stammten. Eine Kolonne „durchtrainierter Männer“ sei aus Berlin angereist.
Es waren nicht genügend Beamte im Einsatz
Rund 1500 linke Gegendemonstranten bezogen ebenfalls Stellung im gegenüberliegenden Stadthallenpark. Mehrere Hundertschaften der Polizei bemühten sich, die gewaltbereiten Demonstranten auseinanderzuhalten – nicht immer mit Erfolg. Es kam zu Zusammenstößen; Flaschen und Pyrotechnik flogen durch die Luft. In Videos ist zu sehen, wie rechtsextreme Teilnehmer den Hitlergruß zeigen. Die Polizei musste zugeben, die Demonstration unterschätzt zu haben. Es waren nicht genügend Beamte im Einsatz, um Straftaten zu verhindern oder alle Straftäter festzunehmen. Bilder einer prügelnden Menge gingen durch die Republik. Als wäre der Rechtsstaat nicht mehr in der Lage, für Ordnung zu sorgen.