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Beschluss in Karlsruhe : Bundesverfassungsgericht fordert drittes Geschlecht in Geburtenregister

  • Aktualisiert am

Dritte Geschlechtsbezeichnung: Intersexuellen Menschen, die weder männlich noch weiblich sind, soll ermöglicht werden, ihre geschlechtliche Identität „positiv“ im Geburtenregister eintragen zu lassen Bild: dpa

Bisher gibt es nur drei Optionen im Geburtenregister: Männlich, weiblich – oder nichts. Nun soll intersexuellen Menschen ermöglicht werden, ihre geschlechtliche Identität „positiv“ eintragen zu lassen.

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          Über männlich und weiblich hinaus muss der Gesetzgeber künftig einen weiteren Geschlechtseintrag im Geburtenregister ermöglichen. Zu diesem Urteil kam der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe mit sieben gegen eine Richterstimme in seinem am Mittwoch veröffentlichten Beschluss.

          Die Regelung gilt demnach für all diejenigen, die sich nicht als Mann oder Frau sehen. Der Beschluss lässt indes bewusst offen, wie das Parlament diese Vorgabe genau umsetzt. Als eine Möglichkeit nannte das Gericht, künftig generell auf Geschlechtseinträge zu verzichten. Die Bundesregierung erklärte ihre „volle Bereitschaft, das Urteil umzusetzen“.

          Deutschland wäre mit einer Neuregelung das erste europäische Land, in dem die Registrierung eines dritten Geschlechts möglich wäre. Die Karlsruher Richter betonten, die geltenden Regelungen des Personenstandsrechts seien nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, da sie gegen das Diskriminierungsverbot verstießen. Eine Neuregelung muss demnach bis Ende 2018 geschaffen werden. Die beschwerdeführende Person hatte beim Standesamt beantragt, die Angabe „inter/divers“ oder „divers“ eintragen zu lassen. Das Standesamt lehnte dies ab. Das Amtsgericht gab der Behörde recht.

          Der Senat in Karlsruhe sprach nun der Zuordnung zu einem Geschlecht „herausragende Bedeutung“ zu. Dies gelte auch für jene, „die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen sind“. Das geltende Personenstandsrecht greife in dieses Recht ein. Die Möglichkeit, beim Geschlecht „fehlende Angabe“ einzutragen, reiche nicht aus. Ein „bürokratischer und finanzieller Aufwand“ der Behörden durch eine Neuregelung müsse hingenommen werden.

          Die Klage scheiterte zuvor in sämtlichen Instanzen

          Im Ausgangsfall hatte ein intersexueller Mensch den Antrag auf Änderung seines Geschlechts auf „inter“ oder „divers“ im Geburtenregister gestellt. Er war als Mädchen eingetragen worden. Laut einer vorgelegten Chromosomenanalyse ist er aber weder Frau noch Mann. Der Mensch trägt nur ein X-Chromosom, ein zweites Chromosom, das ihn als weiblich (X-Chromosom) oder als männlich (Y-Chromosom) ausweisen würde, fehlt.

          Die Klage scheiterte zuvor in sämtlichen Instanzen, zuletzt vor dem Bundesgerichtshof. Zu Unrecht, wie die Verfassungshüter nun entschieden: Die geschlechtliche Identität sei ein „konstituierender Aspekt der eigenen Persönlichkeit“ und somit von dem im Grundgesetz verankerten allgemeinen Persönlichkeitsrecht geschützt. Zudem nehme die geschlechtliche Identität für alle Menschen eine „Schlüsselposition“ in der Selbst- und Fremdwahrnehmung ein. Deshalb sei auch die geschlechtliche Identität jener Menschen geschützt, die weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen seien.

          Dem Beschluss zufolge könnten in Deutschland bis zu 160.000 intersexuelle Menschen leben. Der Deutsche Ethikrat plädierte bereits 2012 dafür, dass bei Menschen, deren Geschlecht nicht eindeutig feststellbar ist, neben der Eintragung als weiblich oder männlich auch „anderes“ gewählt werden können solle.

          Reaktionen auf den Beschluss

          Politiker von Regierung und Opposition sowie verschieden Menschenrechtsorganisationen begrüßten die Entscheidung. Bundesfamilienministerin Katarina Barley (SPD) forderte, dass die Umsetzung des Karlsruher Beschlusses von der künftigen Bundesregierung „umgehend angegangen“ wird.

          Lüders rief den Gesetzgeber auf, das Urteil zu einer umfassenden Reform der bisherigen Rechtslage hin zu einem modernen Geschlechtsidentitätsgesetz zu nutzen. „Dreh- und Angelpunkt einer solchen Regelung muss das Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung sein“, erklärte sie. Ähnlich äußerte sich der Lesben- und Schwulenverband.

          Die Grünen-Familienpolitikerin Franziska Brantner forderte ebenfalls eine schnelle Umsetzung der Entscheidung. Ziel müsse sein, intersexuellen Menschen „das Leben in geschlechtlicher Selbstbestimmung“ zu ermöglichen, sagte sie der Nachrichtenagentur AFP.

          Das Deutsche Institut für Menschenrechte sprach sich für ein „Geschlechtervielfaltsgesetz“ aus, das „die Anerkennung der Vielfalt von körperlichen Geschlechtsentwicklungen, Geschlechtsidentitäten und des Geschlechtsausdruck“ verbessern solle.

          Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International sprach von einem „wichtigen Schritt“. Der Beschluss „wird die Akzeptanz geschlechtlicher Vielfalt in der Gesellschaft hoffentlich steigern“, sagte die Expertin Maja Liebing.

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