Bundesparteitag : Die Linkshaber-Partei
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Applaus für das Programm: Klaus Ernst nimmt Oskar Lafontaine in den Arm, Gesine Lötzsch klatscht Bild: dapd
Auf dem Parteitag klappte, was sonst nie klappt - Absprachen hielten. Vier Jahre nach ihrer Gründung gibt die Linkspartei sich ein Programm und reklamiert nicht nur Willy Brandt für sich.
Ob etwa die Partei auch ihr Ziel des "demokratischen Sozialismus" sogleich umschreiben werde, falls nur einige Medien Anstoß daran nähmen, twitterte die Parteibildungsbeauftragte Halina Wawzyniak, schrieb aber vorsichtshalber in Klammern "Ironie" hinzu. Denn für einige kurze Minuten war es am Samstagabend bei der Linkspartei spannend geworden, und der Moment hatte mit Sozialismus nichts zu tun. Der Erfurter Parteitag veränderte nur wenige Passagen des knapp 3000 Zeilen langen Programmentwurfs an Ort und Stelle.
Der allergrößte Teil des Textes war in sorgfältig komponierten Kompromissen zwischen den Strömungen der Partei vereinbart worden, lange bevor die über 500 Delegierten am Freitagmorgen auch nur ihre Mineralwasserflaschen und die Beutel mit Gummibärchen und Hustenpastillen vor sich aufgebaut hatten. Doch ein wenig Freiraum braucht jede noch so disziplinierte Partei, und so gelangten doch einige Formulierungen noch in das erste Programm der 2007 gegründeten Partei, die normalerweise einer schärferen Prüfung unterzogen worden wären. Darunter die Forderung von der "Legalisierung aller Drogen".
Die Macht der Medien bewiesen
Doch Gregor Gysi ist Rechtsanwalt, und so merkt er auch in anstrengenden Situationen, wann er einschreiten muss. Als am Samstagabend die ersten Medien online berichteten, die Linkspartei sei für die Legalisierung aller Drogen, formulierte er rasch eine Verständnishilfe: "Das bedeutet die Entkriminalisierung der Abhängigen und die Organisierung von Hilfe und einer legalen und kontrollierten Abgabe von Drogen an diese." Rasch war die Sache beschlossen und so hatte der Fraktionsvorsitzende im Bundestag abermals die Macht der Medien bewiesen.
Ganz und gar gleichgültig ist es also nicht, was im Programm steht. So hatte es vorher geheißen, um zu signalisieren, dass sich von weiteren Auseinandersetzungen über Richtung, Methode und Diktion niemand mehr etwas versprach. Am Ende eines schlechten Jahres müsse die neue Partei vor allem in die "stabile Seitenlage" gebracht und so überlebensfähig gemacht werden, hieß es von den Kombattanten. 96,9 Prozent Zustimmung gab der Parteitag am Sonntagvormittag dem Programm; nun wird die Basis befragt. Vor Weihnachten soll das Ergebnis der Urabstimmung feststehen.
Je mehr Langeweile, desto weniger Tränen und Streit
Dass dies leicht der langweiligste Parteitag aller Zeiten werden könnte, hatte man schon im Zug nach Erfurt gehört. Die so sprachen, meinten es im positiven Sinn: Je mehr Langeweile, desto weniger Tränen, Streit, Auszeiten und hysterische Spontanbeschlüsse werde es geben. Vor dem Parteitag klappte, was sonst in der Linkspartei nicht gut funktioniert: Die Strömungsvertreter redeten miteinander, machten Absprachen, trafen Vereinbarungen für den Fall, dass sich ihre Delegierten in der Hitze des Gefechts an diese Absprachen nicht gebunden fühlten, und - die Kompromisse hielten tatsächlich.
Die paar Male, die gutes Zureden erforderlich war oder dafür gehalten wurde, zeigten überdeutlich, dass die Vorsitzenden der Partei keine Rolle spielen: Weder Klaus Ernst noch Gesine Lötzsch äußerten sich vor Abstimmungen, die hätten heikel werden können, etwa die über die "roten Linien" für Regierungsbeteiligungen. Ernst bedankte sich später sogar dafür, dass Sahra Wagenknecht und Matthias Höhn sich für die Kompromissformulierung eingesetzt hätten. Wirklich einflussreich sind nur die Galionsfiguren der Strömungen - und Oskar Lafontaine, der Fraktionsvorsitzende der Partei im saarländischen Landtag. Als Lafontaine bei der Debatte zur Sicherheitspolitik sagte "Ihr könnt euch da auf mich völlig verlassen", und damit meinte, er werde keine "Schlupflöcher" zu Bundeswehreinsätzen im Ausland zulassen, lief die Abstimmungen wie geschmiert. Das innerparteiliche Misstrauen war wie ausgeknipst.
Führungslos ist die Partei nicht
Die Linkspartei hat etliche Funktionäre, die Veranstaltungen wie die Erfurt effizient organisieren können. Ihre Führung hat im doppelten Sinne nichts zu sagen. Ihre Reden wimmeln vor Banalitäten, zu bestimmen haben sie nichts. Führungslos aber ist die Partei nicht. Wenn Lafontaine wollte, könnte er in ihr alles werden oder sein, was ihm gefiele. Was ihm gefällt, sagte er nicht. Frau Wagenknecht auch nicht. Aber sie zeigte ihren Herrschaftsanspruch, vor dem Parteitag mit ihrer Konferenz "Kurs halten", einer Plattform des Linksradikalismus, und beim Parteitag in huldvollen Auftritten.
Sie signierte in der ersten Reihe ihr Buch "Freiheit statt Kapitalismus", zeigte mal ihre Rosa-Luxemburg-Seite mit einem langen Rock, in dem sie trippeln muss wie eine Geisha, mal mediengerechteren Sexappeal mit tiefem Dekolleté. Und sie hielt Wort und hielt sich an die Kompromisse. Das erste Programm der Linkspartei - vier Jahre nach ihrer Gründung, nach einer Serie von Wahlerfolgen und, in diesem Jahr, einer Serie von ernüchternden Erlebnissen und Ergebnissen - rühmte sie als "antineoliberales, antikapitalistisches und Antikriegsprogramm".
„Nicht in die Defensive treiben lassen“
Nie sei die Linke so wertvoll wie heute, behauptete Lafontaine: Alles, was zur Bewältigung der Finanz- und Schuldenkrise auf dem politischen Markt sei, sei auf ihrem Mist gewachsen. Die Partei dürfe sich "nicht von den anderen in die Defensive treiben lassen", sagte er. Gregor Gysi nahm in seinem Bericht über die Arbeit der Bundestagsfraktion, die er - noch - allein leitet, das Wort Fraktion nicht einmal in den Mund, sondern redete über sein Lieblingsthema: das Sozialdemokratische. Vom verehrten Willy Brandt sagte er: "Ab heute gehört er uns!" Seiner Ansicht nach braucht die Linkspartei ihren sozialdemokratischen Flügel so sehr wie den linksradikalen. Nur mit den einen sei sie "der SPD zu ähnlich", nur mit dem anderen "gesellschaftlich isoliert".
Ob die Wahl des Tagungsortes Erfurt - 120 Jahre nach dem "Erfurter Programm" der SPD -, Lafontaines Idee eines "Willy-Brandt-Korps" für Katastrophenhilfe und ähnlich beziehungsreiche Anspielungen auf die historische Erbschaft, die man mit dem Programm anzutreten gedenkt, die ersehnten Früchte tragen wird, kann die Linkspartei nun in Seelenruhe (oder, mit der beliebte Metapher, in "stabiler Seitenlage") abwarten. Die nächste Landtagswahl ist im Frühjahr 2012 in Schleswig-Holstein. Eine neue Parteiführung wird kurz darauf gewählt. In dieser Woche entscheidet die Fraktion, ob sie eine Doppelspitze - mit der bekannten Kandidatin Wagenknecht neben Gysi - haben möchte; die Wahl würde im November stattfinden.
Das Programm: Was die Linkspartei zu tun und zu lassen verspricht
Das Programm der Linkspartei nennt „Leitideen“: „Ziel des Wirtschaftens“ soll sein, den Profit zu überwinden und „gute Lebensbedingungen für alle“ zu gewährleisten. Dazu werde die „Unterordnung der Wirtschaft“ angestrebt: „Demokratische, soziale und ökologische Kräfte“ sollen in einem „längeren emanzipatorischen Prozess“ die „Vorherrschaft des Kapitals“ beenden. Deutschland sei eine Klassengesellschaft, heißt es, und: Der Kapitalismus sei nicht „das Ende der Geschichte“. Die Partei strebt den „demokratischen Sozialismus“ an.
Wirtschaft und Staat
Einrichtungen der Daseinsvorsorge und der Infrastruktur, der Energie- und der Finanzsektor sollen verstaatlicht werden. Über weitere „Vergesellschaftungen“ soll „im demokratischen Prozess“ entschieden werden. Als weitere Eigentumsformen werden Genossenschaften sowie die Belegschaftsbeteilung bevorzugt, Privateigentum soll jedoch grundsätzlich möglich sein. Die Linkspartei will die Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich verkürzen, zunächst auf 35, dann auf 30 Stunden die Woche. Es soll einen Mindestlohn in Höhe von 60 Prozent des „nationalen Durchschnittslohns“ geben, beschloss der Parteitag. Die Linkspartei will Hartz IV abschaffen, sie ist gegen das Renteneintrittsalter von 67 Jahren und für eine Mindestrente. In der Gesundheitspolitik und für die Pflege sollen „solidarische Bürgerversicherungen“ eingeführt werden, in die alle einzahlen sollen. Der Drogenkonsum soll legalisiert werden, langfristig will die Linkspartei auch alle Drogen legalisieren. Ebenso wie die Passage zur Drogenpolitik wurde die Wendung während des Parteitags neu in den Programmtext aufgenommen, die Linke werde sich für eine Kindergrundsicherung ohne Prüfung der Einkommensverhältnisse der Eltern einsetzen. Mit Steueränderungen soll eine Umverteilung von oben nach unten erreicht werden: Erbschafts- und Vermögensteuer sollen erhöht beziehungsweise eingeführt werden, die Abgeltungssteuer auf Kapitalerträge soll dem Einkommensteuersatz entsprechen, der Spitzensteuersatz soll erhöht werden. Ein Zukunftsfonds soll eingerichtet werden - nicht im Programm, aber in den Forderungen der Partei enthalten ist die geplante Höhe von 100 Milliarden Euro -, es sollen Millionen gut bezahlte Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst eingerichtet werden.
Auswärtige Politik
Die Linkspartei wünscht einen „Neustart“ der Europäischen Union, die Auflösung der Nato und die Reform der Vereinten Nationen. Deutschland solle aus den militärischen Nato-Strukturen austreten und sich nicht an Militäreinsätzen unter UN-Mandat beteiligen. Ausgenommen sind implizit, nicht ausdrücklich, Einsätze nach Kapitel 6 (zur friedlichen Beilegung von Konflikten) der UN-Charta. Die Partei befürwortet nach heftigen Auseinandersetzungen über die Haltung zur Nahostpolitik in den vergangenen Monaten das Existenzrecht Israels. Sie ist für die Einrichtung einer zivilen Katastrophenhilfstruppe, der sie den Namen „Willy-Brandt-Korps“ geben will.
Regierungsbeteiligung
Beschlossen wurde auch eine Kompromissformel zu den Bedingungen für mögliche Regierungsbeteiligungen, die umstrittenen „roten Linien“: „An einer Regierung, die Kriege führt und Kampfeinsätze der Bundeswehr im Ausland zulässt, die Aufrüstung und Militarisierung vorantreibt, die Privatisierungen der Daseinsvorsorge oder Sozialabbau betreibt, deren Politik die Aufgabenerfüllung des öffentlichen Dienstes verschlechtert, werden wir uns nicht beteiligen.“ (mk.)