Bildungsforschung : Wo Talente vergeudet werden
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Bild: F.A.Z.
Deutsche Grundschüler liegen im internationalen Vergleich im oberen Leistungsdrittel. Doch die Spitzengruppe ist zu klein - zugleich ist die Gruppe der Risikoschüler zu groß.
Aufsehenerregender als die Ergebnisse von Iglu und Timss 2011 war das Eingeständnis des Präsidenten der Kultusministerkonferenz (KMK), Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD), dass sich die Kultusminister bisher vor allem auf die Förderung der Risikoschüler konzentriert hätten - also auf diejenigen, die am Ende der vierten Klasse solche Leistungsdefizite im Lesen, in Mathematik und in den Naturwissenschaften aufweisen, dass sie auf weiterführenden Schulen große Schwierigkeiten haben werden.
“Wir werden durch die Studie auf ein neues Tätigkeitsfeld aufmerksam“, sagte Rabe und verwies auf die im internationalen Vergleich viel zu schwache Spitzengruppe in allen drei Testbereichen. Auch frühere Studien wie Pisa hatten schon gezeigt, dass die Spitzengruppe der leistungsstärksten Schüler in Deutschland zu klein ist, das gilt auch für die Gymnasien.
Von Bildungsnähe der Eltern abhängig
Bisher wollten die Kultusminister aber davon nichts hören, obwohl etwa Jürgen Baumert vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung immer wieder darauf hingewiesen hat. Ging die Förderung der Schwächsten zu Lasten der Stärksten? Haben Lehrer Angst vor Eliteförderung? Man werde sich die Ergebnisse sorgfältig anschauen müssen, sagte Rabe in Berlin.
Der Anteil der Schüler auf der höchsten Kompetenzstufe hat sich für Deutschland gegenüber dem Jahr 2001 nicht signifikant verändert. 9,5 Prozent der Schüler lesen in Deutschland sehr gut, jedes zehnte Kind zeigt also fortgeschrittene Leseleistungen. In der Russischen Föderation sind das 19,3 Prozent, in England 18,3, in den Vereinigten Staaten 17,3 und in Ungarn 12,2 Prozent. Noch größer sind die Unterschiede zu den Spitzengruppen anderer Länder in Mathematik und in den Naturwissenschaften.
In Singapur liegt die Spitzengruppe der fortgeschrittenen Rechner bei 42,9 Prozent, in Japan bei 29,7, in England bei 18, in den Vereinigten Staaten bei 12,8, in Dänemark bei 9,2 und in Deutschland nur bei 5,2 Prozent. In den Naturwissenschaften ähnelt sich der Anteil der Schüler in der Spitzengruppe. Nur 1,5 Prozent der deutschen Viertklässler erreichen in allen drei Testbereichen Spitzenleistungen.
Vor allem beim Lesen sind Spitzenleistungen von der Bildungsnähe des Elternhauses abhängig. Wer mehr als hundert Bücher zu Hause hat, liest einfach besser, was spätestens seit Pisa bekannt ist. Auch in Mathematik und in den Naturwissenschaften liegt der Leistungsvorsprung der Kinder aus bildungsnahen Familien bei einem Schuljahr.
Leistungen nicht signifikant verbessert
Niemand wird nach dieser Studie noch behaupten können, dass die Leistung in Deutschland so stark von der Herkunft abhänge wie in keinem anderen Land. In Rumänien, Ungarn, Bulgarien, Belgien (französischer Teil), Irland, Frankreich, Österreich, Polen und der Slowakei ist die Abhängigkeit von der sozialen Herkunft noch viel ausgeprägter.
In der Türkei gibt es besonders wenige Familien mit mehr als 100 Büchern (13,5 Prozent), besonders viele mit mehr als 100 Büchern indessen in Korea (in Südkorea 65,4 Prozent), gefolgt von Australien (41 Prozent), Schweden (39 Prozent), Finnland (38,3 Prozent). In Deutschland liegt der Anteil der Familien mit mehr als hundert Büchern, dem internationalen Indikator für Bildungsnähe, bei 34,9 Prozent und damit überdurchschnittlich hoch.
Die vielen Initiativen von Lehrern und Eltern, Kinder für das Lesen zu begeistern, scheinen gefruchtet zu haben. Nur elf Prozent der Viertklässler lesen nie außerhalb der Schule. Allerdings haben sich die Leseleistungen insgesamt - das gilt sowohl für Sachtexte wie für literarische Texte - gegenüber 2006 und 2001 in Deutschland nicht signifikant verbessert. Das mag zum einen daran liegen, dass Sprach- und Leseförderung von allen Ländern zwar mit vielen Millionen Euro finanziert werden, es aber kaum Erkenntnisse über die Wirksamkeit der Programme gibt.
863 Unterrichtsstunden pro Jahr
Dennoch haben sich vor allem die Leistungen der Kinder aus Einwandererfamilien deutlich verbessert. Nur noch acht Prozent der Kinder sprächen zu Hause nie Deutsch, berichtete der Leiter des Instituts für Schulentwicklungsforschung, Bos, von einer Parallelgesellschaft könne keine Rede sein. Der Vorsprung der Kinder aus deutschen Familien liegt trotzdem bei etwa einem halben Schuljahr.
Der Leistungsvorsprung von Kindern aus bildungsnahen Familien liegt bei etwa einem Schuljahr. Erfreulich ist, dass Grundschüler nach den Befunden dieser Studie deutlich lieber lesen und motivierter sind als in den Jahren 2001 und 2006. Zugleich hat sich der Leistungsvorsprung der Mädchen beim Lesen und derjenige der Jungen in Mathematik und den Naturwissenschaften verringert.
Erstaunlich ist, dass die Vereinigten Staaten es geschafft haben, ihr Leistungsniveau in allen drei Testbereichen deutlich anzuheben. Das mag zwar mit den deutlich am angelsächsischen Schulsystem orientierten Testaufgaben zusammenhängen, möglicherweise aber auch mit der Bildungsinitiative „no child left behind“ (kein Kind soll zurückgelassen werden).
Bei der Gesamtzahl der Unterrichtsstunden liegt Deutschland mit 863 Stunden im Jahr knapp über dem EU-Mittelwert (853 Stunden), die Niederlande liegen mit 1078 deutlich darüber. Der Stundenanteil für das Lesen liegt bei 24 Prozent, für Rechtschreibung und Grammatik bei 25,1 Prozent. Länder mit höheren Stundenanteilen erzielen nicht unbedingt bessere Ergebnisse, entscheidend ist die Qualität des Unterrichts.
Sinnvoll konzipierte Ganztagsschulen könnten die Leistungsdifferenzen zwischen der stärksten und der schwächsten Gruppe verringern. Die Ganztagsschule als solche führe jedoch nicht zu besseren Ergebnissen, es müsse eine gebundene Ganztagsschule sein, sagte Bos. Ein Bundesländervergleich für die vierte Jahrgangsstufe hatte kürzlich ergeben, dass der Anteil der schwächsten Schüler unterhalb der Mindeststandards in Berlin und Bremen bei 25 Prozent liegt, in Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt, Bayern und Sachsen hingegen bei zehn Prozent und weniger.