Beschneidung : Im Urlaub
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Beschneidungsfeier: „Papa, ich habe das gemacht, was immer so wehtut.“ Bild: © Barry Lewis/In Pictures/Corbis
Die Eltern hatten eine Vereinbarung: keine Beschneidung. Dann fuhr die Mutter mit dem Sohn nach Tunesien.
Rudolf Adler spricht nicht darüber. Weder mit Freunden noch mit Verwandten. Weil er sein Kind schützen will, weil es ihm unangenehm ist. Er und seine tunesische Frau hatten eine Vereinbarung: Sie verbieten ihrem vier Jahre alten Sohn Benjamin, Schweinefleisch zu essen, verzichten aber dafür auf eine Beschneidung des Jungen.
Doch seit dem 4. Juni weiß Adler, dass die Vereinbarung hinfällig ist. Seine Frau Fadima rief ihn an diesem Tag aus Tunesien an, wo sie mit ihrem Kind im Urlaub war. „Gib mir doch mal unseren Sohn“, sagte Adler. „Geht nicht, er spielt gerade mit Nachbarskindern“, antwortete sie. Seit Tagen hatte Adler nicht mit seinem Sohn reden können. Mal war er angeblich vor der Tür, mal bei Nachbarn.
Diesmal wollte Adler sich nicht abwimmeln lassen. „Was ist denn los? Jetzt gib ihn mir mal“, sagte er. Benjamin ging ans Telefon. „Papa, ich habe das gemacht, was immer so wehtut“, sagte er. Eine Sekunde später war die Leitung tot. Adler rief seine Frau nicht mehr an, er wusste ohnehin, was passiert war.
Streit und Tränen am Küchentisch
Immer wieder hatten er und seine Frau über Beschneidungen diskutiert. Als Benjamin noch ganz klein war, sprach Adler das Thema zum ersten Mal an. „Ich habe meine Skepsis geäußert“, sagt er. Sie brach in Tränen aus. „Ich wusste nicht, was ich machen soll. Ich kann mit solchen Konfliktsituationen nicht umgehen“, sagt Adler. Beim Thema Beschneidung war er aber nicht bereit, Kompromisse einzugehen. Oft genug war er der Familie seiner Frau entgegengekommen, vielleicht zu oft.
Vor sieben Jahren hat Adler seine heutige Ehefrau im Tunesien-Urlaub kennengelernt. Ein Jahr später wollten beide heiraten, doch ihre Familie akzeptierte keinen Christen. Also konvertierte Adler zum Islam. „Ich musste im Religionsministerium eine Prüfung ablegen“, sagt er. Adler wurde zu einem Mufti, einem ranghohen Geistlichen, geladen. Ein Sekretär und Adlers Frau waren ebenfalls anwesend. Der Prüfling rezitierte zwei Suren aus dem Koran auf Arabisch. Bestanden. „Ich bin ein staatlich geprüfter Muslim“, sagt Adler, ohne zu lachen. Seiner eigenen Familie erzählte er nichts davon. Ohnehin nahm er die Sache mit dem Konvertieren nicht wichtig. Er glaubt genauso wenig an Allah wie an Gott. „Ich bin ein säkularer Typ.“
„Man will ja nicht anecken“
Als staatlich geprüfter Muslim versucht Adler, Verständnis für die Familie seiner Frau aufzubringen. „Sie sind sehr traditionell, und man will ja nicht anecken.“ Er aß nicht vor seiner Schwiegermutter, als sie im Fastenmonat zu Besuch da war. Auch sonst passte er sich an. Er akzeptiert sogar arrangierte Ehen in der Familie seiner Frau. „Das muss ja nicht immer falsch sein, wenn die Frauen einverstanden sind“, sagt er. Adler will verstehen, nachvollziehen. Das änderte sich auch nicht, als er erfuhr, was mit seinem Sohn passiert war.
Wenn es stimmt, was seine Frau ihm erzählt hat, wurde der kleine Benjamin entführt und zwangsbeschnitten. Der älteste Bruder seiner Frau soll dahinter stecken. Seit dem Tod des Vaters ist der Mittfünfziger das Oberhaupt der Familie. Adler beschreibt ihn als unauffälligen Mann, der den Respekt seiner Verwandten genießt. „Er stand sicher unter Druck“, sagt Adler. „Nachbarn und Verwandte haben ihn vielleicht gefragt, warum unser Sohn nicht beschnitten ist.“ Er soll zusammen mit einer Schwester Benjamin in die nächst größere Stadt in 50 Kilometer Entfernung gebracht haben, ohne das Einverständnis von Fadima einzuholen. Er spricht kein Deutsch, Benjamin versteht weder Arabisch noch Französisch. „Mein Sohn wusste bis zu dem Tag nicht, was eine Beschneidung ist“, sagt Adler. „Wie soll ein Kind da verstehen, was mit ihm geschieht?“
Anzeige gegen Unbekannt
Als Fadima und Benjamin nach drei Wochen Urlaub nach Deutschland zurückkamen, wartete Adler zu Hause. Er hatte sich von der Arbeit freigenommen, seiner Frau aber nichts davon gesagt. Kaum waren die beiden durch die Tür getreten, wandte sich Adler an seinen Sohn. „Papa ist sauer, weil sie dir wehgetan haben. Wir gehen zur Polizei“, sagte er ihm. Seine Frau fing an zu weinen. „Ich kann doch nichts dafür“, schrie sie. Sie fuhren zu dritt zur Polizei. Adler erstattete Anzeige gegen Unbekannt. Vorwurf: gefährliche Körperverletzung. In seiner Wut ging Adler am nächsten Tag zu seiner Anwältin. Er wollte verhindern, dass sein Sohn wieder ohne ihn nach Tunesien reist. Später einigte er sich mit seiner Frau; sie gab ihm freiwillig den Reisepass von Benjamin. Der Vierjährige darf mittlerweile auch Schweinefleisch essen, nur nicht zu Hause.
Adler weiß nicht, ob er seiner Frau glauben soll. Ob sie wirklich nicht wusste, dass ihr Sohn beschnitten werden sollte. Ob sie wirklich nicht weiß, wer der Beschneider ist. Adler fragt nicht mehr. „Wir haben uns geeinigt, nicht mehr darüber zu reden.“ Ob er Angst vor der Wahrheit hat? Adler überlegt lange. „Es ist eine schwierige Gratwanderung für meine Frau.“ Sie sei von ihrer Familie massiv bedrängt worden. Andererseits habe sie vielleicht Angst, dass er wütend werde und die Scheidung einreiche, wenn er die Wahrheit erführe. „Beides wäre eine Schande für sie.“
Schweigen und Misstrauen als Ergebnis
Mit Benjamin hat Adler nie mehr über die Beschneidung gesprochen. Er hofft, dass er das Ganze vergessen und dass ihn der Eingriff nicht traumatisieren wird. Niemand aus Adlers Umfeld weiß von der Beschneidung, nicht mal seine eigene Mutter. „Ich will nicht, dass meine Frau als schlechter Mensch dasteht“, sagt er. „Wir halten das geheim.“
Die Staatsanwaltschaft konnte den Beschneider nicht ausfindig machen, das Verfahren wurde deshalb eingestellt. Adler hat Widerspruch eingelegt. „Nicht zuletzt hat das Landgericht Köln kürzlich in einem ähnlichen Fall die Strafbarkeit einer rituellen Zwangsbeschneidung bejaht“, schrieb er an die Staatsanwaltschaft. Hoffnung auf weitere Ermittlungen hat Adler aber kaum.
Vor wenigen Wochen haben Adler und seine Frau ihr zweites Kind bekommen. Es ist ein Junge. „Leider“, sagt er. Adler hat eine böse Vorahnung.