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Beschneidung : Glaubensgrenzen

In der Frage der Beschneidung ist eine gesetzliche Regelung durch den Bund dringend nötig. Denn auf diesem sensiblen Feld darf es keinen föderalen Wettbewerb und keinen „Tourismus“ geben.

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          Entscheidet die Mehrheit über das, was in diesem Land strafbar ist? Die Mehrheit im Bundestag gewiss, denn sie verabschiedet die Strafgesetze. Die Parlamentsmehrheit wiederum geht zurück auf eine in einem komplexen Wahlverfahren ermittelte Mehrheit der Bürger. Keineswegs aber entscheidet die „vox populi“ darüber, welches Verhalten unter Strafe steht. Insofern ist der Satz des Berliner Generalstaatsanwalts missverständlich, bisher habe sich die Mehrheit der Bevölkerung nicht an Beschneidungen gestört, weshalb eine Tradition nicht von heute auf morgen verboten sein könne.

          Sie kann es schon - aber nur auf gesetzlicher Grundlage. Schließlich gibt es gar nicht so wenige Traditionen, an denen sich lange Zeit die Mehrheit der Bevölkerung nicht stieß und die heute als ziemlich strafwürdig gelten. Dem geht freilich in der Regel ein gesellschaftlicher Prozess voraus, der in ein Gesetzgebungsverfahren mündet. Dieses Stadium ist erreicht, seitdem das Kölner Landgericht die religiös motivierte Beschneidung eines Jungen als strafbare Körperverletzung gewertet hat - ohne den Arzt zu bestrafen, weil ihm nicht bewusst gewesen sei, unrecht zu tun. Das ist jetzt nicht mehr ganz so einfach zu begründen.

          Die Verunsicherung unter den Ärzten ist offenbar und verständlicherweise groß. Das spricht für eine gesetzliche Regelung - aber nur durch den Bund, denn nur der kann Strafrecht setzen. Das gerät zurzeit aus dem Blick, da nun Landesjustizminister ihre Staatsanwaltschaften anweisen, religiös motivierte Beschneidungen nicht zu verfolgen. Die Folge kann eine Rechtszersplitterung auf einem sensiblen Feld sein, auf dem es keinen föderalen Wettbewerb und keinen „Tourismus“ geben darf. In ganz Deutschland müssen einheitliche Standards gelten. Immerhin stehen sich hier gewichtige verfassungsrechtliche Positionen gegenüber - und sowohl Eltern (siehe auch das Ohrlochstechen) sowie Juden und Muslime (muss das uralte religiöse Gebot tatsächlich körperlich vollzogen werden?) überdenken ihre bisherigen Positionen.

          Straflos werden übrigens auch in Berlin religiös motivierte Beschneidungen nicht generell sein: Nur wenn der Eingriff durch einen Arzt und nach strengen Regeln vorgenommen wird, sollen die Staatsanwälte nicht tätig werden. Womöglich werden also gerade die Strenggläubigen getroffen. Und darum geht es ja auch: Wie weit darf der Glaube gehen?

          Reinhard Müller
          Verantwortlicher Redakteur für „Zeitgeschehen“ und F.A.Z. Einspruch, zuständig für „Staat und Recht“.

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