
Beschneidung : Geist und Fleisch
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Wird die Beschneidung zukünftig in Deutschland straffrei bleiben? Bild: dpa
Die Praxis wie auch die Ablehnung der Beschneidung sind in hohem Maß kulturrelativ. Die Unterstellung aber, ganze Bevölkerungsgruppen vergingen sich am Wohl ihrer Kinder, ist abwegig und anmaßend.
Vernunft und Zivilisation können auf archaische Riten rückständiger Minderheiten keine Rücksicht nehmen! Im Namen des Rechts ist es sogar geboten, unaufgeklärte Minderheiten vor der Verstümmelung ihrer Kinder zu schützen! In etwa so legten sich - zwei Jahrtausende vor Erfindung von Talkshow und Internetforum - auch schon griechische und römische Autoren die Sache mit der Beschneidung zurecht. In der longue durée hat sich also wenig geändert: Viele Europäer halten für fortschrittlich, was sie schon immer für fortschrittlich hielten.
Und Juden und Muslime wundern sich über den offenbar tiefsitzenden Furor beim Thema Beschneidung, der nach einem Gerichtsurteil recht unvermittelt losbricht, obwohl seit vielen Jahrhunderten in Deutschland beschnitten wird - wie jeder wissen konnte, wenn er es denn wollte. Nicht nur die Praxis, auch die Ablehnung der Beschneidung ist in hohem Maß kulturrelativ.
Im Nahen Osten praktizierten von heute bis zurück ins Altertum die Mehrzahl der Völker in der einen oder anderen Form Beschneidungen. So nahmen weder Assyrer noch später Perser an der Sitte des von ihnen unterjochten jüdischen Volkes Anstoß. Das änderte sich, als nach dem Siegeszug Alexanders des Großen erstmals europäische Mächte über Palästina herrschten, die mit Unverständnis und Abscheu auf Beschneidungen reagierten. Dass beschnittene Jungen in den Gymnasien gehänselt wurden, war eine vergleichsweise harmlose Seite des in der Folge aufkommenden Assimilationsdrucks.
Prägender Konflikt für die jüdische Religion
Schwerer wogen gesetzliche Verbote der Beschneidung. Seinen Höhepunkt erreichte der Konflikt, als 167 vor Christus Antiochus IV. den Versuch unternahm, die jüdische Religion gewaltsam zu hellenisieren. In den Makkabäerbüchern, die den folgenden Aufstand schildern, wird von Hinrichtungen ganzer Familien berichtet, weil sie einen Neugeborenen beschneiden ließen. Dieser Konflikt ist prägend für die jüdische Religion bis in die Gegenwart. Er fand seinen Niederschlag in den Schriften des Judentums, die wieder und wieder einschärfen, dass der Fortbestand des Volkes vom Festhalten an identitätsstiftenden Ritualen abhängt.
Die Selbstbehauptung gegen die hellenistischen Herrscher führte auch zu Änderungen in der Praxis der Beschneidung: Juden, die sich dem Druck zur Assimilation beugen wollten, konnten sich in der Antike einer kosmetischen Operation unterziehen, welche die Beschneidung rückgängig machte. Die jüdischen Autoritäten zogen daraus die Konsequenz, den Eingriff in seinem Umfang dahin gehend auszuweiten, dass er nicht mehr rückgängig zu machen ist. Die Beschneidung in ihrer heutigen Form ist vielfach bereits also das Ergebnis ihrer Infragestellung.
Verbot hätte weitreichende Folgen
Für die abendländischen Debatten über die Beschneidung war hingegen von großer Bedeutung, dass das Band zwischen Judentum und Christentum just bei der Frage der Beschneidung gerissen ist. Der Streit über die Beschneidung markiert nicht nur den Beginn des Christentums als eigenständiger Religion, sondern auch eine Änderung im Verständnis von „Religion“ überhaupt, wie sich im dritten Kapitel des Philipperbriefs des Apostels Paulus wie unter einem Mikroskop studieren lässt: Nur der „Geist“, nicht aber das „Fleisch“ ist nach Paulus als religiöse Größe ernst zu nehmen. Und kaum etwas ist nach Paulus fleischlicher als die Beschneidung.
Diese unhintergehbar christliche Auffassung von „Religion“ sollte man allerdings nicht - ebenso wenig wie den europäischen Gedanken der Nation - nachträglich auf das Judentum übertragen. In dessen Überlieferung vom Bund Gottes mit Israel sind Volk, Glaube, Kultus und Moral eng ineinander verflochten. Ein Verbot der Beschneidung hätte für das Judentum also nicht nur Folgen in religiöser Hinsicht.
Worin besteht das Kindeswohl?
Was bedeutet das für die aktuelle Debatte? Von Beschneidungsgegnern wird stets das „Kindeswohl“ als Argument angeführt. In der Tat kommt in der Abwägung der in Frage stehenden Güter - körperliche Unversehrtheit des Kindes und negative Religionsfreiheit auf der einen Seite, elterliches Erziehungsrecht und positive Religionsfreiheit auf der anderen Seite - dem Kindeswohl eine entscheidende Rolle zu.
Nur ist bei der Austarierung dieser verschiedenen Aspekte zu akzeptieren, dass es sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber gibt, worin das Wohl des Kindes besteht. Das gilt gerade in religiöser Hinsicht: Die einen Eltern halten ihre Kinder bewusst von jeder Religion fern und halten das für einen Dienst am Kindeswohl, andere machen sie mit ihrer eigenen Tradition vertraut und halten das mit ebenso gutem Recht für einen Dienst am Kindeswohl.
Der weltanschaulich neutrale Staat muss mit dieser Vielfalt umgehen. In Einzelfällen wird der Staat sicherlich auch zugunsten der Kinder gegen deren eigene Eltern einschreiten. Die Unterstellung aber, ganze Bevölkerungsgruppen vergingen sich am Wohl ihrer Kinder, ist abwegig und anmaßend. Wenn der Staat mit der Macht des Rechts mit Verboten in die Sphäre von Religion und Familie eingreift, müssen äußerst triftige Gründe dafür vorliegen. Es ist fraglich, ob die Folgen der Beschneidung, wie sie im Judentum und im Islam praktiziert wird, dafür ausreichen.