Hauptstadt der Armen : Suppe, Seife und Erlösung
- -Aktualisiert am
Alles für einen Euro: Wer im Bezirk wohnt und seine Bedürftigkeit nachweist, darf bei „Laib und Seele“ einkaufen. Bild: Jens Gyarmaty
Im Winter wird die Armut in Berlin besonders sichtbar – in Suppenküchen oder Sparbäckereien. Und es ziehen immer mehr Arme in die Hauptstadt.
Klaus Wowereit ist Pensionär, seine berühmte Charakterisierung Berlins als „arm, aber sexy“ gehört der Geschichte an. Die Überschrift des neuen Kapitels ist: „Nicht reich, aber verdammt attraktiv.“ So sei Berlin inzwischen, stellten Sozialwissenschaftler fest, die im vergangenen Jahr die Berlin-Studie für die Hertie-Stiftung fortgeschrieben haben. Das Leben in Prenzlauer Berg und Pankow stellt man sich in Berlin und außerhalb der Stadt wahrscheinlich behaglich bis gediegen vor.
In der Berliner Statistik zur „Armutsgefährdungsquote“ taucht das oft beschriebene Reich des Latte macchiato an zweiter Stelle hinter dem südwestlichen Steglitz-Zehlendorf auf. Nirgends sonst in Berlin habe sich der Sozialindex so schnell fortentwickelt wie dort: „Von proletarisch zu bürgerlich und exklusiv“ sei im Nordosten Berlins der Weg gegangen.
Doch auch hier existiert eine dichte Infrastruktur für Hilfeleistungen. Wo, wie in Berlin, das durchschnittliche monatliche Haushaltsnettoeinkommen bei nicht einmal 1700 Euro liegt (die Zahl stammt aus dem Jahr 2013), ist man rasch arm, und da sind die Armen dann auch wirklich arm. Wie es in Kreuzberg einen Laden gibt, in dem alles ohne Verpackung verkauft wird, so gibt es in Prenzlauer Berg zwei Läden namens „Second Bäck“, in denen man Brot vom Vortag günstig erwerben kann.
Die Zielgruppe ist in beiden Fällen aufgeklärt und umweltbewusst. Doch sind möglicherweise die Kunden von „Second Bäck“ wirklich arm und nicht nur so vernünftig zu wissen, dass gutes Brot nicht nur frisch gut schmeckt. Ganz und gar im bürgerlichen Ambiente verschwindet der Konsument, der scharf auf Preise achtet, in den Filialen der „Hofpfisterei“, die während abendlicher „Happy Hour“ bayerisches Brot mit Rabatt verkauft. Dort ahnen allenfalls die Verkäuferinnen, welcher Kunde spät kommt, weil er sparen muss.
In diesen Tagen feiert ein erfolgreiches Umverteilungsprojekt zehnten Geburtstag, „Laib und Seele“, ein Kooperationspartner der „Berliner Tafel“, die älter ist. Auch „Tafel“ und „Laib und Seele“ haben einen starken Umweltaspekt: Lebensmittel, die genießbar, aber nicht mehr verkäuflich sind, werden mit Verbrauchern zusammengebracht, die froh über jede Entlastung ihres Geldbeutels sind.
„Laib und Seele“
Vor der evangelischen Adventskirche an der Danziger Straße 201, nahe der großen Schwimmhalle und dem Velodrom, informiert ein Plakat über die Regeln: Jeden Mittwoch von 10.45 Uhr bis 12 Uhr werden Lebensmittel ausgegeben. Wer für einen Euro einkaufen will, muss seine Bedürftigkeit nachweisen – durch Renten-, Bafög- oder Hartz-IV-Bescheide – und muss in den Postzustellbezirken 10405, 10407 und 10409 leben. Das sind feinste Prenzlauer-Berg-Adressen.
Von neun Uhr an gibt es Nummern, und die sind wie in einer Lotterie gemischt, um die Schlaumeier zu entmutigen, die sich auch in solchen Schlangen zuverlässig einstellen. Alle, die um neun Uhr in und um die Adventskirche zu sehen sind, wissen, wo sie was finden: in der Kapelle, wo die ehrenamtlichen Helfer von „Laib und Seele“ in ihren roten Hemden und Schürzen zusammensitzen, die Nummer, im Gemeindesaal ein Frühstück samt Gesellschaft, um die Wartezeit zu verkürzen.
Die Ehrenamtlichen der Adventskirche gehören, zusammen mit Mitgliedern der katholischen Nachbargemeinde Corpus Christi, zu den „Laib und Seele“-Teams der ersten Stunde. Das merkt man, wenn auf den Ruf „Die Männer sind da!“ hin alle in den Raum stürzen, wo ein kleiner Laden mit Waren gefüllt wird: Links vom Eingang wird der Euro eingenommen und geprüft, ob der Überreicher der Nummer auch zum Kreis der Berechtigten gehört, dann geht es weiter zum Tisch mit dem Brot, zu dem mit Gemüse, dann zum Obst, zum Fleisch und zu den Milchprodukten – und am Ende gibt es Süßigkeiten. Das Team ist bestens eingespielt, es wird rasch und hart gearbeitet, damit die Kunden nicht länger als nötig warten müssen. Das Zwei-Kilo-Paket Fleischsalat wird in kleine Portionen geteilt, die Rollenbutter in Scheiben geschnitten und verpackt, faule Tomaten und braune Bananen landen in der Biotonne.