Ausnahmezustand in Chemnitz : Alleingelassen mit einem Gefühl
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Am Mittwochmittag bittet Barbara Ludwig ins Besprechungszimmer im zweiten Stock des Rathauses. Draußen an der Fassade hängen noch die blau-gelben Fahnen, 875 Jahre Chemnitz, die Stadt wollte eigentlich feiern, und jetzt das. Die Oberbürgermeisterin von der SPD hat keinen einfachen Job in diesen Tagen, das ist noch untertrieben, sie hat einen geradezu unmöglichen Job, denn sie muss nun irgendwie die Stadt zusammenhalten und kann es dabei ohnehin nicht allen recht machen.
Chemnitz fühlt sich alleingelassen
Das sei ein schöner Sommer gewesen, sagt sie, die Menschen hätten das gute Wetter genossen, dann das Stadtfest, zunächst lief alles gut und dann „so ein Hieb“. Sie meint damit nicht nur den Messerangriff vom Wochenende, sondern auch, was danach in der Stadt passiert ist. Die Trauer um den Verlust des 35 Jahre alten Mannes sei „benutzt“ worden, sagt Ludwig, instrumentalisiert von Menschen, die Hass säen wollten.
Dabei seien die Chemnitzer vor drei Jahren, am Beginn der Flüchtlingskrise, noch hilfsbereit gewesen. „Das war überwältigend“, sagt Ludwig, die Bürger spendeten Kleidung für die Erwachsenen und Spielzeug für die Kinder. Die Risse kamen mit dem Gefühl, von der großen Politik, von Berlin und Dresden, nicht gefragt worden zu sein, und Ludwig sagt bestimmt: „Wir wurden auch nicht gefragt.“ Die Städte und Gemeinden seien alleingelassen worden mit den Lasten von Aufnahme und Integration der vielen Geflüchteten.
Was Meldungen über Flüchtlinge als Tatverdächtige auslösen
Diese Aufgabe hätten wahrscheinlich auch die Chemnitzer noch irgendwie bewältigt, wären nicht immer wieder Meldungen dazwischengekommen, die mit den Monaten eine gefährliche Stimmung entstehen ließen. Es waren Meldungen von kleinen und größeren Zwischenfällen, von Delikten und Straftaten, bei denen Flüchtlinge als Tatverdächtige galten. Gerade erst berichteten lokale Medien davon, dass ein Syrer im Verdacht steht, ein 15 Jahre altes Mädchen in Chemnitz vergewaltigt zu haben, der Haftbefehl erging demnach am Sonntag – nur wenige Stunden, nachdem Daniel H. auf dem Bürgersteig nahe des Marx-Monuments zusammenbrach.
Solche Ereignisse machen es Menschen wie Martin Kohlmann leicht, seine Botschaft unters Volk zu bringen. Der gebürtige Chemnitzer arbeitet als Rechtsanwalt und sitzt für die Bürgerinitiative „Pro Chemnitz“ im Stadtrat, derselben Gruppierung also, die am Montagabend zur Kundgebung aufgerufen hat und auch an diesem Donnerstag wieder Tausende Wutbürger auf die Straßen in Chemnitz-Sonnenberg bringen will.
Ab jetzt wird mit Chemnitz Hass verbunden
Kohlmann steht am Mittwochnachmittag am Rednerpult des Stadtrats, es ist die erste Sitzung des Gremiums seit den Ausschreitungen, er sagt: „Der Bürger muss zu Selbstschutz greifen.“ Es sei nicht nur Trauer, welche die Chemnitzer in diesen Tagen bewege, es sei „Wut, der Ruf nach Konsequenzen“, und das sei „verständlich und richtig“.
Die anderen Stadtratsfraktionen, mit Ausnahme der AfD, machen keinen Hehl daraus, dass die Kohlmann und seine Gefolgsleute für die geistigen Brandstifter der Ausschreitungen halten, mindestens jedoch für mitverantwortlich für all die Gewalt, für all den Hass, den nun jeder Auswärtige, der die Bilder gesehen hat, mit der Stadt verbindet.