Auschwitz-Prozess in Lüneburg : „Die Schuld, überlebt zu haben“
- -Aktualisiert am
Hatte angeblich Versetzungsgesuche gestellt: Der Angeklagte Oskar Gröning neben seiner Anwältin an diesem Mittwoch im Lüneburger Gerichtssaal Bild: dpa
Im Prozess in Lüneburg sagen Nachfahren von Überlebenden des Holocausts aus. Derweil helfen Historiker dem Gericht, die Rolle des Angeklagten in Auschwitz zu ermessen.
Judith Kalman verdankt Auschwitz ihr Leben. „Mein Leben hat aus ihrem Tod seine Form genommen“, sagt sie im Gerichtssaal in Lüneburg. Judith Kalman wurde nach dem Krieg in Kanada geboren und wuchs in Toronto auf. Doch ihr Leben ist mit der Ermordung der europäischen Juden verbunden. Denn ihre Eltern fanden zusammen, nachdem die erste Frau ihres Vaters und dessen kleine Tochter Eva mit sechs Jahren in den Gaskammern ermordet worden waren. Auch ihre Mutter war in Auschwitz. Sie überlebte. Ihr ganzes Leben, sagt sie, war von dieser verlorenen Familie geprägt. Sie verdankt ihr Leben dem Tod der kleinen Eva, und sie maß sich ihr Leben lang an dem, was ihre kleine Halbschwester, die sie nie kennengelernt hat, hätte werden können. „Die Schuld, überlebt zu haben, hat mein Leben geprägt.“
Mit der 61 Jahre alten Judith Kalman hat am Mittwoch erstmals eine Nachgeborene von Überlebenden des Holocaust in dem Prozess gegen den früheren SS-Mann Oskar Gröning ausgesagt. Sie spricht für die vielen wenig beachteten Schicksale derjenigen, die die Vernichtungslager nicht selbst erlebt hatten, deren ganzes Leben aber im Schatten des Holocausts verlief. Es sind die Geschichten der Überlebenden und Nachgeborenen, die die zweite Woche des Strafverfahrens gegen Oskar Gröning prägen.
Menschen, die meisten längst jenseits der Achtzig, die erzählen, wie sie aus ihrer Kindheit gerissen wurden und plötzlich im Vernichtungslager Auschwitz waren. Ein Ort, an dem „nur eine kleine Gebärde, eine Gebärde, die gesagt hat rechts oder links“ über das Leben entschied, wie die 89 Jahre alte Eva Pusztai-Fahidi erzählt. „Als man diese Gebärde gesehen hat, wusste man gar nicht, was diese kleine Bewegung bedeutete.“ Und wo sich der beißende Geruch verbrannten Fleisches über das Lager legte, als die Krematorien im Sommer 1944 rund um die Uhr arbeiteten.
Die Beweissituation hat sich verkehrt
In der zweiten Woche des Prozesses sind Historiker als Sachverständige geladen. Sie sollen die Abläufe und Strukturen des Lagers beleuchten. Jene organisatorischen Details, die den Tatbeitrag des Angeklagten Gröning beleuchten sollen, nachdem die Überlebenden die Dimensionen des Schreckens geschildert haben. Denn im Gegensatz zu den früheren Prozessen der sechziger Jahre hat sich die Beweissituation verkehrt. Heute leben nur noch wenige Zeugen, die die Täter belasten könnten. Dafür sind die Akten der SS gesichtet und legen die organisatorischen Zusammenhänge frei.
Der Historiker Frank Bajohr vom Münchner Institut für Zeitgeschichte erläutert im Gericht, wie der Holocaust nicht nur die Ermordung der Juden sondern auch den Raub des letzten Besitzes der Ermordeten umfasste. Der Angeklagte Gröning hatte die Verwertung der Raubgüter zur Aufgabe. Gröning zählte und verbuchte das Geld der Häftlinge. 2,65 Tonnen Gold und 20,3 Millionen Reichsmark in ausländischen Devisen - heute ein Wert von mehr als 100 Millionen Euro - seien allein in zwei Jahren aus den Vernichtungslagern nach Berlin gebracht und auf die Konten der SS verbucht worden.