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Atommüll : „Keine Tabus bei Endlagersuche“

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Behälter mit hoch radioaktiven Abfällen im atomaren Zwischenlager in Gorleben. Nun beginnt ein neue Suche nach Alternativen zum Salzstock in Niedersachsen

Behälter mit hoch radioaktiven Abfällen im atomaren Zwischenlager in Gorleben. Nun beginnt ein neue Suche nach Alternativen zum Salzstock in Niedersachsen Bild: dpa

In Deutschland sollen Alternativen zu Gorleben als Standort für ein Atommüll-Endlager geprüft werden. „Es gibt kein Tabu“, sagte Umweltminister Röttgen nach einem Treffen mit Vertretern aller Bundesländer.

          3 Min.

          Bund und Länder wollen bei der Suche nach einem Endlager für hochradioaktiven Atommüll Alternativen zum Salzstock Gorleben prüfen. Das machte Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) nach einem Treffen mit Vertretern der 16 Bundesländer deutlich.

          Wie die Prüfung von Alternativen konkret aussehen soll, muss noch in weiteren Beratungen erörtert werden. Röttgen sagte: „Es gibt eine weiße Landkarte - kein Tabu.“ Es gehe darum, den sichersten Standort für ein Endlager zu finden. Weitere Schritte sollen von einer Arbeitsgruppe aus acht Ländern und dem Bund geklärt werden, die noch im November zum ersten Mal tagen soll.  Für den angestrebten nationalen Konsens soll bis zum Sommer 2012 ein Gesetz für die Suche nach einem Atommüll-Endlager vorlegen.Das Gesetz soll Kriterien wie die geeignete Gesteinsschichten oder die Frage einer Rückholbarkeit des Mülls festlegen.

          Bild: dpa

          Röttgen sprach von einer großen Chance, die Energiefrage nun einschließlich des Problems der nuklearen Entsorgung im Einklang zu lösen. „Das gehört zu den Fragen, die entweder im Konsens gelöst werden oder ungelöst bleiben.“ Der Atommüll werde nicht ins Ausland gebracht und das Problem nicht auf die nächste Generation verschoben. Er verspreche ein transparentes Verfahren bei der Endlagersuche einschließlich einer Bürgerbeteiligung von Anfang an.

          Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) spricht sich zur größtmöglichen Legitimation für ein Atommüll-Endlager für eine Volksabstimmung aus. „Wenn es ein nationaler Konsens ist, den wir da treffen, dann könnten wir auch nur national darüber abstimmen“, sagte Kretschmann, der aber zugleich einschränkte: „Im Grundgesetz sind solche Abstimmungen bisher überhaupt nicht vorgesehen.“ Das gesamte Verfahren müsse transparent für die Bürger sein. Die Schweiz stimmt etwa 2020 über das Endlager für hochradioaktiven Müll ab.

          „Salzstöcke grundsätzlich geeignet“

          Kretschmann sagte, bei der bundesweiten Prüfung von Alternativstandorten bleibe auch Gorleben im Spiel,  „weil wir Salzstöcke grundsätzlich für geeignet halten“. Man dürfe keine Option von vornherein ausschließen. Kretschmann: „In diesen Fragen muss Sicherheit, Klarheit und Kontinuität über die Parteigrenzen hinweg bestehen.“

          Er sprach von einer der schwierigsten Fragen, die das Land zu beantworten habe. „Irgendwo muss das Zeugs einfach hin.“ Es gehe um eine epochale Entscheidung, die auch Regierungswechsel überstehen müsse:

          Auch Niedersachsens Ministerpräsident David McAllister (CDU) unterstützt den „neuen Anlauf“ für die Standortsuche. Bislang hätten Gorleben und Niedersachsen allein die Last der Suche tragen müssen. Dies werde sich nun ändern. „Es wird ein Prozess in Gang gesetzt, um einen bundesweiten, parteiübergreifenden Konsens zu finden“, sagte der CDU-Politiker, der von einem „sehr ambitioniertes Verfahren“ sprach: „Es sind in diesem Prozess unendlich viele Fragen zu klären:“

          Aus Baden-Württemberg kommt der Vorschlag, bundesweit bis zu vier weitere Standorte zu prüfen und 2020/2021 zwischen den zwei besten Optionen das Endlager auszuwählen. Röttgen hatte zu dem Treffen die Ministerpräsidenten aller 16 Bundesländer eingeladen, es reisten aber nur McAllister und Kretschmann an. Die anderen Länder schickten die Chefs ihrer Staatskanzleien oder Fachminister.

          Kretschmann hatte im Zuge des Energiekonsenses die Debatte geöffnet, indem Baden-Württemberg erstmals sich grundsätzlich zu einer Suche auf seinem Gebiet bereiterklärte. Aus Bayern gab es daraufhin ähnliche Signale. In beiden Ländern befinden sich Gesteinsschichten, die grundsätzlich für ein Lager für hochradioaktive Abfälle geeignet wären. Neben diesen Ländern sollen auch Sachsen, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und Hessen an der Arbeitsgruppe teilnehmen. Dazu kommt der jeweilige Vorsitzende der Länder-Ministerpräsidentenkonferenz.

          Trittin hofft auf „Endlagerkonsens“

          Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin betonte: „Wir haben zum ersten Mal die Chance, seit drei Jahrzehnten zu so etwas zu kommen wie dem Endlagerkonsens“. Zuversichtlich sei er vor allem, weil Bayern und Baden-Württemberg sich einer ergebnisoffenen Endlagersuche nicht mehr verschlössen, sagte Trittin am Morgen in der ARD.

          Trittin forderte von der schwarz-gelben Bundesregierung, schnell ein Gesetz mit den wesentlichen Kriterien für eine Endlagersuche auf den Weg zu bringen. Zudem verlangte Trittin erneut einen Stopp der Erkundung in Gorleben. Es bestünden „massive Zweifel“ an der Eignung. „Wir brauchen ein Endlager, was den Atommüll für eine Million Jahre sicher einschließt“, sagte Trittin. Schaffe man den angestrebten Konsens noch in dieser Legislaturperiode, dann sei „der letzte große Streitpunkt in der Atompolitik beseitigt“.

          Greenpeace forderte eine Absage des nächsten Castor-Transports mit Atommüll in das nahe des Salzstock gelegene oberirdische Zwischenlager. An der Fassade des Bundesumweltministeriums brachten Aktivisten ein Plakat an mit der Aufschrift: „McAllister: Ausstieg aus Gorleben - Castor absagen“. Angesichts umstrittener Strahlenwerte im oberirdischen Zwischenlager gibt es Kritik an dem Transport, der Ende November in Gorleben eintreffen soll - tausende Polizisten werden den Transport schützen müssen.

          Die lange Suche nach einem Atommüll-Endlager

          Seit 35 Jahren ist der Salzstock Gorleben im niedersächsischen Wendland die bundesweit einzige Option für ein Atommüll-Endlager. Da es Zweifel an der Eignung und massiven Widerstand gibt, wird von der Opposition gefordert, eine bundesweite Suche nach dem besten Standort für hochradioaktive Abfälle zu starten. Neben Salz gilt auch Ton als Option. Internationaler Konsens ist es, den Müll in hunderten Metern Tiefe zu versenken. Für Deutschland werden 29 000 Tonnen hochradioaktiver Müll erwartet

          11. November 1976: Im Beisein von drei Bundesministern bringt der niedersächsische Wirtschafts- und Finanzminister Walther Leisler Kiep laut eigener Tagebuchaufzeichnungen Gorleben ins Spiel. Zuvor waren die Salzstöcke Wahn, Lutterloh und Lichtenhorst favorisiert worden.

          1977: Die niedersächsische Landesregierung unter Ernst Albrecht (CDU) beschließt, in Gorleben an der Grenze zur damaligen DDR ein nukleares Entsorgungszentrum zu gründen. Ein transparentes Auswahlverfahren fehlt - die Hoffnung ist auch, dass der arme Kreis Lüchow-Dannenberg durch Investitionen der Atomindustrie einen Aufschwung erfährt.

          1980: Tiefbohrungen zur Erkundung des Salzstocks auf seine Eignung als Atommüllendlager beginnen.
          1982: Die Bauarbeiten für das oberirdische Zwischenlager Gorleben starten, es liegt nur einige hundert Meter entfernt vom Salzstock.

          1983: Die Erkundung des Salzstocks unter Tage beginnt - SPD und Grüne werfen der damaligen Regierung von CDU-Kanzler Helmut Kohl vor, politische Einflussnahme bei der Durchsetzung von Gorleben genommen und sich über Eignungszweifel hinweggesetzt zu haben.

          1995: Von massiven Protesten begleitet trifft im einige hundert Meter vom Salzstock entfernt errichteten oberirdischen Zwischenlager der erste Castor-Behälter mit Atommüll ein. Das Bundesverwaltungsgericht genehmigt die Fortsetzung der Probebohrungen im Salzstock.

          Nach dem Regierungswechsel richtet Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Grüne) den Arbeitskreis Auswahlverfahren Endlagerstandorte (AK End) ein. Die Fachleute sollen ein wissenschaftlich fundiertes und vor allem transparentes Auswahlverfahren entwickeln.

          2000: Im Atomkonsens vereinbart die rot-grüne Bundesregierung mit den Stromversorgern den Ausstieg aus der Kernenergie. Die Erkundung in Gorleben wird bis längstens 2010 ausgesetzt, da Rot-Grün andere Optionen wie eine bundesweite Suche ausloten will.

          2005: Trittin legt einen Entwurf für ein Standortauswahlgesetz vor: In einem bundesweiten Verfahren sollen neben Gorleben auch andere Standorte untersucht werden. Neuwahlen lassen den Plan scheitern.

          2005 bis 2009: Nach der Wahl vereinbart die große Koalition, das Problem „zügig und ergebnisorientiert“ zu lösen. Während die Union an Gorleben festhält, fordert Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD) ein neues Auswahlverfahren. Es gibt keinen Fortschritt. Schwarz-Gelb löst 2009 die große Koalition ab. Gorleben ist nun wieder erste Wahl.

          2010: Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) teilt die Aufhebung des Erkundungsstopps mit. Bei der Standortsuche habe Gorleben weiterhin „oberste Priorität“. Der Bundestag setzt auf Druck der Opposition einen Untersuchungsausschuss ein. Er soll klären, ob die frühere Bundesregierung unter Helmut Kohl (CDU) 1983 Wissenschaftler beim Gutachten zur Eignung Gorlebens beeinflusst hat.

          1. Oktober 2010: Offiziell startet die Wiederaufnahme der Erkundung des Salzstocks Gorlebens. Zur Beschleunigung des Verfahrens setzt die Regierung als letztes Mittel auf Enteignungen.

          9. November 2010: Erst nach knapp 92 Stunden erreicht der bisher längste Castor-Transport mit hoch radioaktivem Atommüll das Zwischenlager Gorleben. Wegen der vorherigen Laufzeitverlängerung kommt es zu massiven Protesten im Wendland.

          2. Dezember 2010: Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) besucht das mögliche Endlager Gorleben und startet einen „Gorleben-Dialog“.

          1. Januar 2011: Das neue Atomgesetz tritt in Kraft. Bei der Suche nach einem Endlager sind als letzter Weg Enteignungen vorgesehen. Besitzer wollen ihre Grundstücke über dem Salzstock nicht verkaufen - so kann bis heute nur ein kleiner Teil erkundet werden - Aussagen über die Eignung des Gebiets wären so kaum möglich.

          14. Februar 2011: Röttgen stellt sich begleitet von lauten Protesten im Kreistag Lüchow-Dannenberg den Gorleben-Kritikern und betont, er wolle keine Enteignungen. Die Erkundung habe auch das Ziel, die mögliche Nicht-Eignung zu beweisen, sagt er nun.

          30. Mai 2011: Union und FDP beschließen einen Atomausstieg bis 2022, über Gorleben hinaus sollen andere Optionen geprüft werden. Auch Bayern erklärt seine Bereitschaft für eine neue Suche. Zuvor hatte sich bereits das grün-rote Baden-Württemberg für die Suche nach Alternativen zu Gorleben ausgesprochen.

          6. September 2011: Röttgen fordert einen Konsens bei einem möglichen Neustart in der Endlagerfrage und kündigt ein Endlagersuchgesetz an - seine konkreten Pläne lässt er aber offen.

          11. September 2011: Der oberste Regierungsberater bei der Entsorgung von Atommüll, Michael Sailer, dringt nach dem Vorbild der Schweiz auf eine bundesweite Endlagersuche mit der Prüfung von vier bis fünf Standorten. Diese seien durch ein fachlich fundiertes Auswahlverfahren am besten bis 2014 oder 2015 zu bestimmen.

          7. Oktober 2011: Baden-Württembergs Umweltminister Franz Untersteller (Grüne) orientiert sich an dem Plan und schlägt die Prüfung von vier Alternativen zu Gorleben vor. Aus diesen Standorten sollen im Jahr 2020/2021 dann nur noch zwei mögliche Standorte zur Auswahl stehen.

          19. Oktober 2011: Röttgens Ministerium teilt mit, dass es am 11. November ein Endlagertreffen geben soll - auf den Tag genau 35 Jahre nach dem Treffen des Bundes mit Niedersachsens Landesregierung, bei dem Gorleben aus dem Hut gezaubert worden sein soll.

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