Am höchsten jüdischen Feiertag wird in Halle auf die Synagoge geschossen. Anders als in Berlin oder Frankfurt gibt es hier keinen Polizeischutz. Zwei Passanten sterben, ein größeres Blutbad wurde nur knapp verhindert.
Von Reinhard Bingener und Mona Jaeger
Sie sind in die Kirche gekommen. Obwohl die Polizei seit Stunden über Radio, Fernsehen und die sozialen Medien die Hallenser Bürger aufruft, zu Hause zu bleiben, weil die Lage noch immer unübersichtlich ist. Kurz vor 18 Uhr ist die Innenstadt von Halle dann auch wie leergefegt. Aber ein paar huschen in die Kirche.
Eigentlich wollten sie jetzt die friedliche Revolution von vor 30 Jahren feiern. Aber das Friedensgebet haben sie absagen müssen, nachdem klar war, was an diesem Tag in Halle geschehen war. Wahrscheinlich mehrere Täter waren durch die Stadt gezogen und hatten um sich geschossen. Zwei Menschen starben. Offenbar hatte ein Täter versucht, in die Synagoge einzudringen. Aber das gelang ihm nicht. Nun hat die Marktkirche, ein imposanter gotischer Bau mit vier Türmen, eine Andacht statt. Eine Frau verteilt Gesangsbücher. „Wir sind da“, sagt sie. Auch wenn die Bürger zu Hause bleiben sollten, sie seien im Wahrsten Sinne des Wortes bewegt.
Um den Altar stellen sie Stühle, um näher zusammen zu sein. Es wird gesungen und gebetet. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen. Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.“ Jeder kann nun aufstehen, eine Kerze anzünden und sagen, was in ihm vorgeht. Einer sagt, er denke an die Opfer und ihre Angehörigen. Eine andere fragt, wie könnten Menschen glauben, mit Mord ihre Ansichten durchsetzen zu können. Und einer spricht sogar von Dankbarkeit. Denn der Angriff auf die Synagoge sei wenigstens missglückt, es müsse nicht wieder eine Synagoge in Halle brennen. Dazwischen herrscht Stille und Ratlosigkeit.
Bürger der Stadt Halle, auf deren Mobiltelefon ein Katastrophenwarner installiert ist, erhielten am Mittwochmittag um 12:48 Uhr folgenden Alarm: „Schusswaffengebrauch im Stadtgebiet. Gebäude und Wohnung nicht verlassen. Von Fenstern und Türen fern bleiben.“ Die Polizei hatte es zu diesem Zeitpunkt mit einer schwer zu überschauenden Einsatzlage zu tun: Bei der Synagoge im Paulusviertel, einem begehrten Wohngebiet mit Altbauten aus der Gründerzeit, waren Schüsse abgegeben worden. Eine Anwohnerin, die nur wenige Straßen weiter wohnt, berichtet am Telefon, dass Polizeihubschrauber über dem Gebiet kreisen und überall Martinshörner zu vernehmen seien. Den geplanten Gang zu ihrem Arbeitsplatz hat sie bleiben lassen und hält sich stattdessen im Inneren ihrer Wohnung auf. Auch ihr Arbeitgeber, die Universität Halle-Wittenberg, hat eine Warnung herumgeschickt, bloß nicht auf die Straße zu gehen. Zu diesem Zeitpunkt kursieren bereits Berichte in der Stadt. Zunächst über ein Todesopfer, kurz darauf über zwei Todesopfer sowie über mehrere Angreifer, die auf der Flucht seien.
Die Synagoge ist ein Bestandteil des historischen Gebäudeensembles im Paulusviertel. 1894 war sie als Feierhalle für den jüdischen Friedhof erbaut worden, der einige Jahre zuvor etwas weiter nördlich angelegt worden war. Auf diesen Friedhof soll eine Handgranate geworfen worden sein. Auch das war ein Hinweis darauf, dass der Anschlag gezielt gegen das Judentum gerichtet war. Hinzu kommt, dass die Juden am Mittwoch Jom Kippur feierten, den Tag der Versöhnung und den höchsten Feiertag im Judentum. Im alten Israel war Jom Kippur der einzige Tag, an dem der Hohepriester das Allerheiligste im Jerusalemer Tempel betreten durfte.
Die jüdische Gemeinde in Halle ist nicht groß. Sie ist theologisch eher konservativ geprägt, gilt aber als offen und betreibt eine anspruchsvolle Kulturarbeit. Die Gemeinde ist mehrheitlich von Juden aus der früheren Sowjetunion geprägt. Der Vorsitzende der Gemeinde ist Max Privorozki. Knapp drei Stunden nach dem Angriff erklärt er im Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass sich – bedingt durch den hohen Feiertag – zum Zeitpunkt des Anschlags 70 bis 80 Gemeindemitglieder in der Synagoge aufgehalten hätten. Verletzt oder gar getötet worden sei jedoch keiner von ihnen.
Diese Angabe deckt sich mit der Schilderung eines Mannes im Mitteldeutschen Rundfunk. Er habe zunächst einen „Riesenknall“ vernommen und gesehen, wie jemand mit einer Schrotflinte auf die Tür der jüdischen Einrichtung geschossen habe. Kurz darauf sei eine junge Frau „zufällig“ von der Straßenbahn gekommen. Der Angreifer habe die Frau erschossen, allerdings mit einer anderen, automatisierten Waffe. Danach habe er weiter mit der Schrotflinte auf die Tür geschossen. Der Täter versuchte in die Synagoge einzudringen. Und noch etwas erzählte der Mann: Der Angreifer habe beinahe wie ein Polizist ausgesehen, habe einen Helm sowie Schutzkleidung getragen. Die Deutsche Presse-Agentur berichtet unter Berufung auf Sicherheitskreise, dass der Angreifer vor der Synagoge auch selbstgebastelte Sprengsätze abgelegt habe.
Bilder und Videoaufnahmen aus Halle, die kurz darauf im Internet kursieren, zeigen noch eine weitere Szene: Ein Mann, den man in seiner Montur für das Mitglied eines Spezialkommandos halten könnte, steht mitten auf einer größeren Straße hinter einem VW Golf. Das Kennzeichen weist auf das nordrhein-westfälischen Euskirchen, wo viele Mietfahrzeuge angemeldet sind. Der Mann feuert um sich. Dass die Aufnahmen aus Halle stammen, ist daran zu erkennen, dass auch Wahlplakate für die anstehende Oberbürgermeister-Wahl in der Stadt zu sehen sind.
Einen weiteres Todesopfer hatte es zuvor in einem Döner-Imbiss gegeben, der in der Nähe der Synagoge in der Ludwig-Wucherer-Straße gelegen ist. Nach dem Bericht eines Augenzeugen soll der Täter durch die Scheibe gefeuert haben. Neben den beiden erschossenen Opfern soll es zwei Schwerverletzte gegeben haben, die wegen Schussverletzungen in der Universitätsklinik behandelt werden. Das Klinikum hielt wegen der unklaren Lage vorsorglich weitere Operationssäle in Bereitschaft.
Gegen 14 Uhr vermeldete dann die Polizei Halle, dass ein Täter festgenommen werden konnte.
Der Einsatz war damit aber noch nicht vorbei. Denn die Ermittler hatten Hinweise darauf, dass an dem Angriff ein zweiter, wenn nicht noch mehr Täter beteiligt waren. „Die mutmaßlichen Täter sind mit einem Fahrzeug flüchtig“, teilte die Polizei auf Twitter zunächst mit. Später wurde berichtet, die Täter hätten versucht, getrennt zu fliehen. Die Lage war äußert unübersichtlich und es war nicht klar, auch für die Sicherheitsbehörden, ob an dem Angriff tatsächlich mehrere Täter beteiligt waren oder ob es sich um einen Einzeltäter handelte. Die Sicherheitsbehörden forderten unter anderem die Bewohner im Bereich Landsberg auf, in ihren Wohnungen zu bleiben. In der Region, die rund 15 Kilometer von Halle entfernt im Saalekreis liegt, fielen Schüsse. Der Ortsteil WIedersdorf wird abgeriegelt.
Es ist ein Großeinsatz, der zu diesem Zeitpunkt ins Rollen kommt. Die Führung übernimmt die Polizeiinspektion Halle. Einsatzkräfte aus ganz Mitteldeutschland werden in der Region zusammengezogen, auch Spezialkräfte der Bundespolizei. Aus dem Sicherheitsapparat ist zu hören, dass man auf schwere Ausrüstung setze, da man sich auf weitere Schusswechsel einstellen müsse, etwa beim Versuch einer Festnahme. Auch sei damit zu rechnen, dass der Einsatz noch länger andauern könne. Auch außerhalb von Sachsen-Anhalt werden die Verkehrswege überwacht.
Völlig offen sind zu diesem Zeitpunkt die Hintergründe des Angriffs. „Das ist auch völlig normal“, erklärt ein Beamter, denn zunächst sei die akute Gefährdungslage abzuarbeiten. Die Polizeiinspektion Halle konnte über die Identität des Festgenommenen zunächst auch keine Angaben machen. Wegen des möglichen politischen Hintergrunds werden die Ermittlungen jedoch bereits am Nachmittag von der Bundesanwaltschaft übernommen. Die Ermittler aus Karlsruhe sprechen dann relativ rasch davon, dass die gesamten Umstände des Angriffs auf einen rechtsextremistischen Angriff hindeuteten. Später erfuhr die F.A.Z. aus Koalitionskreisen in der Landeshauptstadt Magdeburg, dass der festgenommene mutmaßliche Angreifer ein Deutscher sei – ein „Weißer“, kein „Araber“.
Sollten sich diese Angaben bestätigen, dürfte vor der anstehenden Landtagswahl in Thüringen eine neue Debatte über die Gefahr durch Rechtsextreme entbrennen. In Halle gibt es diesbezüglich schon seit einiger Zeit Gesprächsbedarf: In der traditionsreichen Universitätsstadt an der Saale unterhält die Identitäre Bewegung beim Steintorcampus der Geisteswissenschaften seit 2017 ein eigenes Haus, das Anziehungspunkt für die Neue Rechte sowie extrem rechts stehende AfD-Abgeordnete ist. Aus dem Haus heraus wurden schon Polizisten von Rechtsextremisten angegriffen, die dabei Schutzhelme trugen.
Die Geschehnisse in Halle beschäftigten am Mittwoch aber nicht nur die Sicherheitsbehörden und die Einwohner von Halle und Landsberg. Nutzer der Deutschen Bahn mussten sich auf Verspätungen einstellen, da der Bahnhof Halle über Stunden gesperrt war und ICE-Züge sowie IC-Züge über Leipzig umgeleitet wurden. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff brach wegen der Geschehnisse in Halle kurzfristig seine Brüssel-Reise ab und kehrte in sein Bundesland zurück. „Ich bin entsetzt über diese verabscheuenswürdige Tat. Es wurden durch sie nicht nur Menschen aus unserer Mitte gerissen, sie ist auch ein feiger Anschlag auf das friedliche Zusammenleben in unserem Land. Mein Mitgefühl gilt den Angehörigen der Opfer“, teilte der CDU-Politiker mit. Steffen Seibert, der Sprecher von Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach zurückhaltend von „schrecklichen Nachrichten aus Halle“.
Da man jedoch einen antisemitische Motivation des Angriffs vermuten musste, wurden die Sicherheitsvorkehrungen an vielen Synagogen in Deutschland verstärkt. Vor der Synagoge in Halle an der Saale waren zum Zeitpunkt des Angriffs keine Polizisten postiert gewesen, berichtet der Gemeindevorsitzende Max Privorozki. Offenbar hielten die Behörden einen besonderen Schutz der jüdischen Gemeinde auch zu Jom Kippur nicht für erforderlich. Die frühere Polizeipräsidentin von Halle soll einmal gesagt haben, die Gefährdungslage der Synagoge in der Stadt sei mit Gefährdung von Synagogen wie Frankfurt am Main nicht zu vergleichen. Auch aufgrund Personalmangels stelle man nicht ständig Polizisten zu deren Schutz ab, sondern bloß sporadisch. Ein Anwohner aus der Nachbarschaft der Synagoge berichtet, dass die Polizeipräsenz seither sogar noch reduziert worden sei. Anders als in Frankfurt oder Berlin habe er schon seit Jahren kein als Polizeifahrzeug erkennbaren Wagen vor der Synagoge gesehen. Es gebe lediglich eine Überwachungskamera. Über diese Kamera konnten die Mitglieder der Gemeinde am Mittwoch verfolgen, wie der Angreifer mit brachialer Gewaltanwendung versuchte, in ihre Synagoge zu gelangen.
Der Grünen-Landtagsabgeordnete Sebastian Striegel, der ebenfalls im Paulusviertel unweit der Synagoge wohnt, glaubt, dass die Besucher der Synagoge bei diesem glasklaren antisemitischen Anschlag großes Glück gehabt hätten. „Ein größeres Blutbad wurde nur verhindert, weil es bei dem Angriff nicht gelang, die Eingangstüre zu durchbrechen.“ Die in der Synagoge versammelten Gläubigen wollten sich dem Hass gegen ihre Religion am Mittwoch auch nach dem Angriff nicht beugen. Als die Polizei die Gemeindemitglieder im Lauf des Nachmittags in Sicherheit bringen wollte, widerstrebte das dem Gemeindevorsitzenden Max Privorozki. An Jom Kippur gehe man nicht so früh nach Hause. „Erst nach Sonnenuntergang.“
Gegen 20 Uhr kommen vor allem junge Menschen auf dem Marktplatz, bald dürften es einige wenige Hundert sein. Viele haben Kerzen dabei. Nacheinander treten sie an einen Betonsockel, der an diesem Abend zum Mahnmal wird, und stellen brennende Kerzen darauf. Auch einige Blumen werden niedergelegt. Das Bündnis „Halle gegen Rechts“ hatte kurzfristig über Facebook zu der Andacht aufgerufen. Die Straßenbahnen rattern da schon wieder am Marktplatz vorbei, die Ausgangswarnung ist aufgehoben. Auf dem Marktplatz aber ist es trotz der vielen Menschen ruhig, fast bedrückend still.