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Kanzlerin im F.A.Z.-Interview : „Eine Islamisierung Deutschlands sehe ich nicht“

  • Aktualisiert am

In Sorge vor Anschlägen auch in Deutschland: Bundeskanzlerin Angela Merkel im F.A.Z.-Interview Bild: Frank Röth

Ein Gespräch mit Bundeskanzlerin Merkel über die Konsequenzen aus dem Terroranschlag in Frankreich, die Trennlinie zwischen Islam und Islamismus, das Selbstbewusstsein der Christen, Pegida und AfD, den Konflikt mit Russland - und über die zunehmende Abwendung von Europa.

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          Frau Bundeskanzlerin, vom Trauermarsch in Paris für die Opfer des Terroranschlags und von der Mahnwache am Brandenburger Tor ging ein starkes Signal der nationalen und der internationalen Geschlossenheit aus. Haben sich die Terroristen verrechnet?

          Ja, denn über nationale, Partei- und Religionsgrenzen hinweg ist von beiden Veranstaltungen ein starkes Signal der Solidarität und Entschlossenheit ausgegangen. Ich fand es auch sehr wichtig, dass so viele Regierungschefs nach Paris gekommen sind. Es war wunderbar, sich mit den vielen Menschen auf den Straßen und Plätzen einig zu fühlen. Wir halten so oft Reden darüber, aber in diesen Tagen spürt man: Die Freiheit, das ist für die allermeisten Menschen ein Lebensbedürfnis. Wir sind uns bewusst, dass die von früheren Generationen erkämpfte Religions-, Meinungs- und Pressefreiheit nicht für alle Zeiten garantiert ist, sondern dass jede Generation neu für diese Werte eintreten muss.

          Auch in Deutschland gibt es Hunderte sogenannter Gefährder. Könnte sich ein Anschlag wie der von Paris auch bei uns ereignen? Was können wir dagegen tun? Welche Konsequenzen müssen wir aus dem Anschlag ziehen?

          Die terroristische Bedrohung durch dschihadistische, islamistische Kräfte gibt es überall auf der Welt. Sie treibt die australische, die kanadische oder die amerikanische Regierung genauso um wie die französische und die deutsche und viele andere. Wir tun alles, was in unseren Möglichkeiten steht, damit so etwas in Deutschland nicht geschieht. Nach jedem schrecklichen Anschlag fragen wir: Welche Lehren sind daraus zu ziehen? Wir arbeiten international zusammen, denn allein wären wir nicht in der Lage, solche Bedrohungen zu bekämpfen. Völlig ausschließen können wir einen solchen Anschlag aber auch in Deutschland nicht.

          Die Attentäter waren französische Staatsangehörige. Wie können wir verhindern, dass junge Deutsche in den sogenannten „Heiligen Krieg“ ziehen? Und wie können wir unterbinden, dass sie als hasserfüllte Terroristen zurückkehren?

          Niemand hat auf die Frage, wie junge Leute zu kaltblütigen und hasserfüllten Terroristen werden, die abschließende Antwort. Wir brauchen gut ausgestattete Sicherheitskräfte mit dem entsprechenden Rüstzeug, einschließlich der entsprechenden rechtlichen Maßnahmen. Wir wollen Ersatz-Personalausweise für potentielle Terrorkämpfer einführen, um ihre Ausreise zu verhindern. Dabei hilft es, dass eine neue UN-Resolution allen Mitgliedstaaten aufgibt, gerade auch die Ausreise zum Zwecke der Ausbildung in Terrorcamps, zum Beispiel des „Islamischen Staats“, unter Strafe zu stellen. Das müssen wir in deutsches Recht übertragen. Die europäische Zusammenarbeit muss noch intensiver werden, denn durch die Schengen-Abkommen werden unsere Außengrenzen von anderen Ländern geschützt. Wir brauchen einen umfassenden Informationsaustausch. Europa hinkt hinterher, was die Nutzung von Flugpassagierdaten anbelangt. Darüber muss dringend in der Europäischen Union gesprochen werden. Wir brauchen eine gut funktionierende, internationale Kooperation der Nachrichtendienste. Aber es gibt auch eine andere Ebene als die der Sicherheitskräfte: die aufmerksame Zivilgesellschaft, die genau hinschaut, zum Beispiel, wenn es Auffälligkeiten in Moscheen gibt. Eltern und Freunde, die bemerken, dass ein junger Mensch unter schädlichen Einfluss gerät, sollten sich nicht scheuen, sich gegenüber staatlichen Stellen zu äußern, dass hier etwas schiefläuft. Ich verstehe, wie schwierig das für Eltern und Geschwister ist, aber sie sollten es tun. Je früher man eine solche Veränderung entdeckt, desto besser kann darauf reagiert werden.

          Heißt das, die Muslime und deren Verbände in Deutschland tun noch nicht genug, um das Abgleiten junger Menschen in den Terrorismus zu verhindern?

          Das ist mir zu pauschal. Die muslimischen Verbände haben am Mittwoch eine Mahnwache veranstaltet und sich dabei sehr deutlich geäußert. Es ist besonders wichtig, dass sie diese klare Trennlinie zu allen Gewaltbereiten ziehen.

          Eine wachsende Zahl der Deutschen fürchtet sich vor dem Islam. Verstehen Sie das?

          Ich weiß, dass viele Menschen ein Unbehagen spüren, vielleicht auch, weil wir zu wenig über den Islam wissen. Darauf müssen wir Politiker, die Kirchen, die Gesellschaft insgesamt reagieren. Die Menschen fragen auch, wie man dem so oft gesagten Satz noch folgen kann, dass Mörder, die sich für ihre Taten auf den Islam berufen, nichts mit dem Islam zu tun haben sollen. Ich halte eine Klärung dieser berechtigten Frage durch die Geistlichkeit des Islams für wichtig und dringlich. Die überwiegende Zahl der Muslime, die bei uns leben, steht fern jeder Gewaltbereitschaft. Sie ziehen selbst eine Trennlinie zur Gewalt. In den vergangenen Tagen ist das in Frankreich und in Deutschland auch geschehen.

          Wo ziehen Sie die Trennlinie zwischen Islam und Islamismus?

          Der Islamismus findet statt, wo unter Berufung auf die Religion Gewalt angewendet wird oder zur Gewaltanwendung aufgerufen wird, um andere zu unterwerfen. Es gibt keinerlei Rechtfertigung, im Namen einer Religion Gewalt anzuwenden.

          Es gibt Stimmen, die sagen, die Gewalttätigkeit sei im Islam angelegt.

          Ich bin als Bundeskanzlerin die falsche Ansprechpartnerin für die Auslegung theologischer Fragen. Das ist Aufgabe der Geistlichkeit des Islams. Meine Aufgabe ist es, die übergroße Mehrheit der Muslime in Deutschland vor einem Generalverdacht zu schützen und Gewalt im Namen des Islams zu bekämpfen.

          Sie teilen die Aussage des früheren Bundespräsidenten Wulff, dass der Islam zu Deutschland gehöre. Was bedeutet das für Sie konkret?

          Dass sehr viele Muslime hier in Deutschland leben, insgesamt rund vier Millionen Menschen, die entweder die deutsche Staatsangehörigkeit oder jedenfalls dauerhaft hier ihren Lebensmittelpunkt haben und in ihrer übergroßen Mehrheit rechtschaffene, verfassungstreue Bürger sind. Sie sind ein Teil von Deutschland, und der Glaube, der ihnen wichtig ist, ist es inzwischen auch. Sie sind Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, sie fühlen sich Deutschland verpflichtet und bringen sich mit ihrer Kraft hier ein. Wir erwarten, dass sie die deutsche Sprache sprechen, wir erwarten, dass sie sich zu unserer Rechtsordnung bekennen, und sie dürfen von uns erwarten, dass wir sie dann auch als zu uns gehörig annehmen.

          Kein Verständnis für Pegida: Kanzlerin Angela Merkel im F.A.Z.-Gespräch
          Kein Verständnis für Pegida: Kanzlerin Angela Merkel im F.A.Z.-Gespräch : Bild: Frank Röth

          Gehen Politik und Justiz schon entschlossen genug gegen Muslime in Deutschland vor, die unsere Rechtsordnung nicht akzeptieren und nach den Regeln der Scharia leben wollen? Der Salafismus gehört eindeutig nicht zu Deutschland.

          Richtig, der Salafismus gehört nicht zu Deutschland. Wir begegnen ihm mit den Mitteln unseres Rechtsstaats. Das Strafrecht schützt unsere Werteordnung. Sogenannte Ehrenmorde, Gewaltexzesse in Familien oder Versuche, hier mit der Scharia eine Paralleljustiz zu etablieren, sind damit eindeutig nicht vereinbar. Das müssen wir klar sagen und durchsetzen. Unsere unabhängige Justiz hat die Aufgabe, strafbares Verhalten insoweit konsequent zu ahnden.

          Wulffs Satz, den Sie sich zu eigen machten, stieß und stößt auf Widerspruch, auch in Ihrer eigenen Partei, weil viele ihn als Gleichstellung des Islams mit Christentum und Judentum verstehen, die eine ungleich größere Bedeutung für die Geschichte, die Kultur und das Selbstverständnis dieses Landes haben.

          Natürlich stehen wir auf dem Fundament der christlich-jüdischen Traditionen aus den vergangenen Jahrhunderten. Wir sind durch eine gemeinsame Geschichte in Europa gegangen, wir hatten die Aufklärung. Daraus haben sich unsere heutige Werteordnung und unser Verhältnis von Staat und Glauben entwickelt. Wenn wir heute darüber sprechen, dass inzwischen auch der Islam zu Deutschland gehört, dann sprechen wir über die Realität unserer heutigen Gesellschaft. Und da gilt für mich, dass alle Menschen, die unsere Werteordnung teilen, mit ihrer Religion auch zu unserem Land gehören.

          Halten Sie die Furcht vor der Islamisierung Deutschlands für berechtigt?

          Nein. Die Muslime und ihre Religion, der Islam, sind Teil unseres Landes. Eine Islamisierung sehe ich nicht. Ich sehe eher für Christen die Notwendigkeit, noch mehr und selbstbewusst über ihre christlichen Werte zu sprechen und ihre eigenen Kenntnisse ihrer Religion zu vertiefen. Mit fortschreitender Säkularisierung lassen die Kenntnisse über das Christentum immer mehr zu wünschen übrig. Jeder sollte sich selbst fragen, was er zur Stärkung der eigenen Identität, zu der bei der Mehrheit immer auch noch die christliche Religion gehört, tun kann. Das ist aber keine klassische Aufgabe für die Politik. Im Wesentlichen sind hier Kirchen und in erster Linie die Gläubigen selbst gefordert. Die Politik kann hier nur die Rahmenbedingungen schaffen wie etwa mit dem Religionsunterricht, den ich sehr befürworte.

          Was ist Pegida für Sie?

          Ich kann nur wiederholen, was ich in meiner Neujahrsansprache gesagt habe, dass in den Herzen derer, die zu diesen Demonstrationen aufrufen, zu oft Vorurteile, Kälte, sogar Hass sind. Ich kann den Menschen nur empfehlen, dem nicht zu folgen. Es gibt viele ernste Fragen in unserer Gesellschaft. Als Bundeskanzlerin aller Deutschen ist es meine Aufgabe, wo immer möglich für eine Lösung der Probleme zu arbeiten, die die Menschen umtreiben. Das tue ich mit aller Kraft. Ich muss verstehen, was die Sorgen sind, aber ich muss nicht Verständnis für jede Form von Demonstration haben.

          Sie haben ausdrücklich dazu aufgerufen, nicht an den Demonstrationen teilzunehmen. Ist dieser Protest aus Ihrer Sicht völlig unberechtigt und illegitim?

          Ich verstehe viele Probleme, die viele Menschen umtreiben, etwa die unbestreitbaren Fragen, die die Zuwanderung aufwirft, die ansonsten für unser Land ein Gewinn und im Übrigen unverzichtbar ist, oder die Kriminalität in den Großstädten und in bestimmten Grenzgebieten. Da sind wir als Bundesregierung gefordert und arbeiten auch systematisch an Lösungen, aber bei den genannten Demonstrationen sind auch andere Motive im Spiel. Deshalb sage ich den Menschen, dass sie sich von denen nicht instrumentalisieren lassen sollten, die zu diesen Demonstrationen aufrufen.

          Auf den Hass, von dem Sie sprachen, stößt man inzwischen an vielen Stellen in der politischen Debatte, besonders auch im Internet, wo gegen die „Volksverräter“ in der Politik und die „Lügenpresse“ gehetzt wird. Wo kommt dieser Hass her?

          Eine solche Sprache ist abstoßend. Glücklicherweise ist sie für unser Land nicht repräsentativ. Für uns Politiker gibt es nur eines, und zwar eine möglichst gute Politik zu machen, mit konkreten Taten. Deshalb hat Innenminister de Maizière mit einigen unserer Nachbarländer Abkommen zur gemeinsamen grenzübergreifenden Kriminalitätsbekämpfung geschlossen. Deshalb befassen wir uns in Europa immer wieder mit der Flüchtlingspolitik und arbeiten hierzulande an schnelleren Asylverfahren. Dem dient es, dass wir einige weitere Staaten gesetzlich als sichere Herkunftsländer definiert haben. Das gibt uns die Möglichkeit, denen besser zu helfen, die wirklich Hilfe brauchen, weil sie etwa mit ihrem nackten Leben den Kriegen und der Verfolgung in Syrien und im Irak entkommen sind. Die Welt ist voller Konflikte, und wir erleben in den letzten Jahren, dass die Globalisierung, von der wir in so vieler Hinsicht profitieren, diese Konflikte näher an uns heranrückt. Es ist wichtiger denn je, Entwicklungshilfe zu betreiben und zum Beispiel gerade auch in Afrika die Fluchtursachen zu bekämpfen.

          Pegida und AfD haben Zulauf von Bürgern, die sich von den sogenannten „Altparteien“ nicht verstanden und vertreten, gar ausgrenzt fühlen. Wie können Sie die zurückgewinnen?

          Durch konkrete Politik, durch Taten, indem wir ernsthaft und beständig an den Problemen arbeiten, die die Menschen belasten.

          Pegida und AfD sind auch zu Zufluchtsorten für frühere CDU-Mitglieder geworden. Das sind Leute, die Ihnen und der Union einen Linksrutsch in den „Mainstream“ vorwerfen. Nach dieser Lesart sind Sie mitverantwortlich für die Entstehung von AfD und Pegida.

          Alle Parteien haben Wählerinnen und Wähler an die AfD verloren, auch zum Beispiel die Linke, und einigen Zulauf hat sie aus dem Lager der bisherigen Nichtwähler. Ohne allzuviel auf Umfragen zu geben: Die derzeitigen Werte der CDU sprechen jedenfalls nicht dafür, dass unser Volksparteicharakter sehr geschwächt wäre.

          Sie sehen nicht die Notwendigkeit, dass die Union sich wieder stärker um Konservative kümmern müsste, die sich politisch heimatlos fühlen?

          Das Konservative ist und bleibt eine der Wurzeln der Christlich-Demokratischen Union, neben der liberalen und der christlich-sozialen. Unsere Politik ist und bleibt diesen drei Wurzeln verpflichtet. Unsere Aufgabe ist es, verschiedene Gruppen von Bürgern anzusprechen, sonst können wir keine Volkspartei sein.

          Nicht nur bei uns, überall in Europa erstarken populistische und radikale Parteien und Bewegungen, die vor Überfremdung warnen und damit Wähler anziehen. Wie erklären Sie sich das?

          Mit den Auswirkungen der zunehmenden Globalisierung, auf die manche Menschen mit einem Rückzug ins Nationale reagieren in der trügerischen Annahme, jeder Staat für sich könne die Probleme besser lösen. Ich bin überzeugt, dass es uns nicht hilft, uns von den anderen abzuwenden, sondern schadet. Ohne die Europäische Union, ohne das transatlantische Bündnis, ohne eine enge Zusammenarbeit mit den ärmeren Ländern der Welt können wir die Probleme unserer Zeit nicht lösen. Abschottung ist kein Konzept, um der Globalisierung zu begegnen, und schon gar keines, um unseren Idealen und auch der Intention unseres Grundgesetzes, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, gerecht zu werden.

          Im Juni findet der G-7-Gipfel unter Ihrem Vorsitz statt. Hat Russland noch eine Chance, in Elmau wieder als achter Teilnehmer dabei zu sein?

          Das sehe ich im Augenblick nicht. G 7 und früher G 8 haben sich immer als Wertegemeinschaft gesehen. Die Annexion der Krim, die eine eklatante Verletzung des Völkerrechts darstellt, und das Geschehen in der Ostukraine sind schwerwiegende Verstöße gegen die gemeinsamen Werte. Ich arbeite beinahe täglich daran, gemeinsam mit Russland alle Möglichkeiten einer politischen Lösung des Konflikts auszuloten.

          Es gibt auch in Ihrer Koalition Stimmen, die sagen, man müsse wegen der Wirtschaftskrise in Russland über die Aufhebung der Sanktionen nachdenken, und zwar unabhängig davon, ob der Kreml die politischen Bedingungen erfüllt hat oder nicht. Können Sie dem zustimmen?

          Nein. Die Sanktionen sind kein Selbstzweck, aber die Gründe, weswegen sie beschlossen wurden, sind noch nicht entfallen. Erst wenn das der Fall ist, können wir auch die Sanktionen aufheben. Die Sanktionen der EU gelten jeweils ein Jahr. Wir werden uns im Frühjahr mit der Frage beschäftigen, wie es mit den Sanktionen weitergeht, zu denen wir uns nach Russlands Annexion der Krim entschlossen haben. Nach heutigem Stand werden sie weiter in Kraft bleiben.

          Aber auch eine politische Destabilisierung Russlands infolge einer Wirtschaftskrise wäre nicht in unserem Interesse.

          Wir haben in diesem Konflikt von Anfang an gesagt, dass wir ihn nicht militärisch lösen können und wollen. Wenn das internationale Recht, die Grundlage unserer europäischen Friedensordnung, verletzt wird, müssen wir darauf reagieren. Die wirtschaftliche Destabilisierung Russlands ist nicht in unserem Interesse, sie ist auch nicht unser Ziel. Russland hat es in der Hand, die Sanktionen überflüssig zu machen.

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          Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) will die „Eurozone als Ganzes stärken, mit all ihren Mitgliedern, also einschließlich Griechenland“ : Bild: Frank Röth

          Können Sie erkennen, dass die Sanktionen auch politisch wirken? Putin hält an seinem Konfrontationskurs fest.

          Ob, wann und wie die Sanktionen wirken und was passiert wäre, wenn es sie nicht gegeben hätte - das sind spekulative Fragen, auf die wir nur spekulative Antworten geben können. Ich kann nur sagen, dass das Selbstbestimmungsrecht der Länder und Völker ein hohes Gut unseres Völkerrechts ist, für das wir eintreten müssen. Gerade den Stimmen in der deutschen Wirtschaft, die zweifeln, ob es richtig ist, Sanktionen zu verhängen, kann ich immer wieder nur sagen, dass auch wirtschaftlicher Erfolg abhängig ist von verlässlichen politischen Rahmenbedingungen. Deshalb ist es auch im Interesse der deutschen Wirtschaft, deutlich zu machen, dass man reagieren muss, wenn das einst gemeinsame Verständnis von territorialer Integrität nicht mehr von allen beachtet wird.

          Das heißt, Sie bleiben bei Ihrer Linie und Putin auch.

          Das Ziel ist die Wiederherstellung der territorialen Unversehrtheit der Ukraine. Solange es erforderlich ist, sind dazu Sanktionen unvermeidlich, aber wir werden auch weiterhin keine Mühen scheuen, eine diplomatisch-politische Lösung des Konflikts zu finden, und zwar mit der Ukraine und mit Russland. Wir haben unzählige Male miteinander gesprochen und werden es weiter tun.

          Zum geplanten Gipfeltreffen in Astana ist es jedoch nicht gekommen.

          Ein solches Treffen kann erst stattfinden, wenn greifbare Fortschritte möglich sind, auf der Grundlage des Minsker Abkommens. Außenminister Steinmeier arbeitet mit seinen Kollegen aus Frankreich, der Ukraine und Russland daran, die Voraussetzungen für ein solches Treffen zu schaffen.

          Sie haben sich besorgt darüber geäußert, dass Moskau anderswo, in Ost- und in Südosteuropa, Unruhe stiften könnte. Was steckt hinter dieser Sorge?

          Wir müssen uns die Realitäten anschauen. Die Situation in Südossetien und Abchasien ist weiter eine schwere Belastung für Georgien. Wir haben leider keine Fortschritte in der Republik Moldau im Transnistrien-Konflikt, obwohl es dort internationale Gespräche gibt und obwohl ich mit dem damaligen russischen Präsidenten Medwedjew eine neue Initiative angestoßen hatte. Das bringt mich zu dem Befund, dass die Politik Russlands nicht nur in der Ukraine, sondern auch anderswo vom Denken in Einflusssphären bestimmt ist.

          Das heißt zusammengefasst: Die kleinen „frozen conflicts“, die zu einer Spezialität des Kremls geworden sind, werden von einem großen „eingefrorenen Konflikt“ überwölbt, dem zwischen dem Westen und Russland.

          Es gibt in wesentlichen Fragen große Meinungsverschiedenheiten. Ich will in diesen Fragen zu einer Verständigung kommen, deswegen habe ich mich dafür eingesetzt, dass wir bestehende Kooperationsmöglichkeiten, sei es über die Nato-Russland-Grundakte oder die Mitgliedschaft in der OSZE, dafür nutzen. Daneben gibt es Themen, bei denen wir mit Russland sehr wohl und zum Teil sehr konstruktiv zusammenarbeiten. Ich nenne das iranische Nuklearprogramm und die Bekämpfung des Terrorismus.

          Zu den beliebten Hassobjekten im Internet gehört die EU. Warum ist die Idee der europäischen Einigung so unpopulär geworden, die in Deutschland über Jahrzehnte mit großer Begeisterung verfolgt worden ist?

          Auch dafür sind die Stimmen im Internet glücklicherweise nicht repräsentativ. Die übergroße Mehrheit der Deutschen weiß, dass viele Probleme alleine nicht mehr zu bewältigen sind, dass uns eine Gemeinsamkeit, wie wir sie in der EU haben, hilft, unsere Werte zu wahren und unsere Interessen durchzusetzen, ob im Handel oder bei Klimaverhandlungen oder der Terrorismusbekämpfung. Die EU ist innerhalb weniger Jahre, richtigerweise, stark erweitert worden. Sie muss immer wieder die Balance finden zwischen dem, was auf europäischer Ebene zu regeln ist, und dem, wofür besser weiterhin der Nationalstaat zuständig ist. Es hat ohne Zweifel einige Maßnahmen gegeben, die sicherlich nicht in Brüssel geregelt werden müssen, die Menschen gar als ungerechtfertigte Einmischung in ihren Alltag empfunden haben. Wenn wir uns darauf konzentrieren, nur Dinge gemeinschaftlich zu regeln, die anders nicht erfolgversprechend zu regeln sind, dann wird das europäische Projekt auch wieder stärker akzeptiert werden.

          Welche Zugeständnisse wollen und können Sie dem britischen Premierminister Cameron machen, damit Großbritannien in der EU bleibt?

          Die Briten müssen vor allen Dingen selbst davon überzeugt sein, dass die EU auch für sie ein wichtiges Projekt ist. Wir werden Europas Grundprinzipien nicht in Frage stellen; dazu gehört das Prinzip der Freizügigkeit. Gemeinsamkeiten gibt es aber in der Frage des Missbrauchs dieser Freizügigkeit. Da haben wir Vorschläge gemacht, und auch Großbritannien wird seine Ideen präsentieren.

          Und welche Zugeständnisse wollen und können Sie der nächsten griechischen Regierung machen, damit es nicht zum „Grexit“ kommt?

          Meine ganze Arbeit im Zusammenhang mit der Euro-Krise zielte und zielt darauf, die Eurozone als Ganzes zu stärken, mit all ihren Mitgliedern, also einschließlich Griechenlands. Auf diesem Weg sind wir weit fortgeschritten. Griechenland hat sehr große Anstrengungen unternommen, die für viele Griechen erhebliche Opfer und Einschnitte bedeuten. Grundlage aller europäischen Bemühungen um Griechenland war immer das Prinzip Solidarität gegen Eigenanstrengung und Eigenverantwortung. Dieses Prinzip gilt für uns weiter in der Zusammenarbeit mit jeder griechischen Regierung. Um es noch einmal klar zu sagen: Ich möchte, dass Griechenland in der Eurozone bleibt.

          Mit der Bundeskanzlerin sprach Berthold Kohler.

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