F.A.Z. exklusiv : Interessen schlagen Fakten
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Er erhebt den Anspruch, über Wahrheit und Unwahrheit entscheiden zu können: Donald Trump. Bild: Reuters
Der Begriff „postfaktisch“ ist neu, die Abneigung gegen tatsachenbasierte Debatten jedoch alt. Mit Trump gewinnt diese Einstellung auch in Deutschland an Boden, zeigt eine Allensbach-Umfrage im Auftrag der F.A.Z.
Ein Schlüsselbegriff der aktuellen politischen Diskussion und Analyse ist „postfaktisch“. Die Diagnose lautet, dass sich die Gesellschaft sukzessive und bewusst von der Orientierung an Fakten verabschiedet und nur noch Wollen und Meinen gelten lässt. Begriff und Diagnose suggerieren, dass wir aus einem Zeitalter der sachlichen, faktenorientierten Urteilsbildung kommen. Diese Zeit hat es so nie gegeben. Zahlreiche Untersuchungen aus den letzten Jahrzehnten belegen, dass es in der Bevölkerung immer eine mehr oder weniger ausgeprägte Neigung gab, sich gegen eine vorwiegend faktenbasierte Debatte zu stemmen, insbesondere in Zeiten der Polarisierung.
Neu ist nicht eine Aversion oder Missachtung von Fakten in der Bevölkerung, sondern ein Spitzenpolitiker, der den Anspruch erhebt, allein über Wahrheit und Unwahrheit zu entscheiden, und entsprechend alle, die sich diesem Anspruch widersetzen, zu diskreditieren versucht. Dies bedeutet in einem Land mit einer freien Presse zwangsläufig einen heillosen Konflikt mit den Medien und mit allen, die von der Existenz belastbarer Fakten überzeugt sind.
Die spannende Frage ist, wieweit ein Politiker dauerhaft zu den Medien auf Kollisionskurs gehen und seinen Deutungsanspruch mit Rückendeckung weiter Bevölkerungskreise durchhalten kann. Der amerikanische Präsident vertraut offensichtlich darauf, dass er die Medien niederringen oder zumindest ihrer Wirkung berauben kann. Er setzt dabei auf die Möglichkeiten, sich täglich direkt an die Bevölkerung zu wenden, und auf die Diskreditierung von Journalisten. Die Reichweite seiner Tweets ist selbst ohne die enorme Verstärkerwirkung der Medien beachtlich, und seine rüden Attacken lösen keineswegs einhelliges Entsetzen aus, selbst hierzulande nicht.
Auch wenn die überwältigende Mehrheit der Deutschen diesen Präsidenten kritisch sieht, imponiert immerhin jedem Dritten sein radikaler Kollisionskurs. Besonders AfD-Anhänger finden es faszinierend, wie Trump sich durchsetzt. In den Vereinigten Staaten spricht wenig dafür, dass sein Rückhalt bröckelt. Die letzten veröffentlichten Umfragen zeigen Zustimmungsraten zwischen 41 und 45 Prozent der amerikanischen Bevölkerung – dies sind weitaus mehr, als ihn gewählt haben.
In Deutschland kann man das nicht nachvollziehen. Hier sehen nur sieben Prozent den amerikanischen Präsidenten positiv, 81 Prozent kritisch. Daraus abzuleiten, dass die überwältigende Mehrheit an dem Anspruch Anstoß nimmt, die Deutungshoheit über wahr und unwahr zu haben, wäre verfehlt. Die Bevölkerung fürchtet um das deutsch-amerikanische Verhältnis, ist mit überwältigender Mehrheit überzeugt, dass sich die Beziehungen zwischen beiden Ländern verschlechtern werden. Sein Anspruch auf Deutungshoheit erregt jedoch bei vielen nicht grundsätzlich Anstoß, sondern eher, weil er sich auch auf Nichtigkeiten bezieht.
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Ist die Wahrheit Ansichtssache?
Fakten als Richtschnur der Meinungsbildung sind auch in Deutschland keineswegs unumstritten. Viele zweifeln an ihrer Stichhaltigkeit. Nur 47 Prozent sind überzeugt, dass es „bei vielen Themen und in vielen Situationen klare Fakten gibt, die beweisbar sind und einfach stimmen“. 43 Prozent halten dagegen und vertreten die Position „Was stimmt und was nicht, ist in vielen Fällen Ansichtssache. Es gibt oft kein ,wahr‘ oder ,falsch‘.“ Die Bildungsschichten unterscheiden sich bei dieser Frage nur marginal.
Noch größer sind die Zweifel, ob sich in der Berichterstattung über komplexe Themen belastbare Fakten identifizieren lassen. 55 Prozent ziehen die resignative Schlussfolgerung, dass angesichts der Komplexität und auch angesichts kursierender Falschmeldungen keiner mehr sicher sein könne, was wahr und was falsch ist. Der Kreis, der hier gegenhält und auf überprüfbare Fakten vertraut, macht gerade einmal 32 Prozent aus.
Umfrage
Das Informationsangebot ist heute größer, der Zugang zu Informationen leichter denn je. Aber die Hälfte der Bürger empfindet die politischen Informationen als unübersichtlich und widersprüchlich. 44 Prozent wissen „bei vielen politischen Informationen gar nicht, welchen davon ich glauben kann“. 45 Prozent sind misstrauisch, dass die wirklich wichtigen Informationen den Bürgern vorenthalten werden; von den Anhängern der Linken und insbesondere der AfD glaubt dies die überwältigende Mehrheit. Von diesem Misstrauen ist es zum Vorwurf der Lügenpresse kein weiter Weg. Der amerikanische Präsident arbeitet kontinuierlich mit diesem Vorwurf, offensichtlich ohne bei seinen Anhängern Schaden zu nehmen.
Misstrauen gegenüber den Medien
In Deutschland sind heute 42 Prozent der Bevölkerung überzeugt, an dem Vorwurf der Lügenpresse, der hier zunächst durch Pegida propagiert wurde, sei zumindest etwas dran. Rüde Attacken auf Journalisten, die in Deutschland nicht die öffentliche Diskussion, aber häufiger Debatten im Netz prägen, treffen auf eine bemerkenswerte Toleranz. Eine Äußerung aus dem Netz wie „Diese Lügenpresse lügt halt in alle Richtungen“, halten zwar nur 21 Prozent für in Ordnung, jedoch weitere 40 Prozent für grenzwertig, aber akzeptabel. „Dumm wie Dachpappe, diese Journalisten“ hält knapp die Hälfte der Bevölkerung für eine akzeptable Äußerung, „was für ein Drecksblatt“ die Mehrheit. In einer freien Gesellschaft ist es offenkundig eine besondere Herausforderung, einen zivilisierten Diskurs sicherzustellen.
Das Misstrauen, ein unvollständiges oder geschöntes Bild zu erhalten, ist keineswegs durchgängig, sondern eng themengebunden. Bei der Lokalberichterstattung attestiert die überwältigende Mehrheit den Medien eine glaubwürdige, unvoreingenommene Berichterstattung. Die Mehrheit vertraut auch den Berichten zur wirtschaftlichen Lage und speziell zum Arbeitsmarkt sowie den Berichten über den neuen amerikanischen Präsidenten oder den türkischen Präsidenten Erdogan. In Bezug auf Berichte über den russischen Präsidenten Putin gilt dies interessanterweise nicht: Hier vertraut nur jeder Dritte den Medien, während 59 Prozent zweifeln, ob die Berichterstattung ihnen ein zuverlässiges Bild gibt; überdurchschnittlich äußern wiederum Anhänger von AfD und Linker diese Zweifel.
Zweifel an der Berichterstattung überwiegen auch in Bezug auf Analysen zur Terrorgefahr in Deutschland, zu der wirtschaftlichen Lage in der Euro-Zone, den Folgen des Brexit und den sozialen Unterschieden in Deutschland. Bei keinem Thema ist das Misstrauen jedoch so groß wie bei allen Informationen zu Flüchtlingen, sei es zu den aktuellen Flüchtlingszahlen oder zur Kriminalität von Flüchtlingen. Zwei Drittel der Bürger zweifeln an den Angaben zu den Flüchtlingszahlen, 73 Prozent an der Berichterstattung über die Kriminalität von Flüchtlingen.
Trotz dieser Skepsis zieht die Mehrheit in der Summe eine positive Bilanz der Medienberichterstattung. 55 Prozent sind mit der Berichterstattung über Politik und aktuelle Ereignisse zufrieden, 31 weniger zufrieden und nur sieben Prozent überhaupt nicht zufrieden. Lediglich die Anhänger von der Linken und der AfD äußern sich auch in diesem summarischen Urteil weit überwiegend kritisch.
Deutsche zweifeln an Experten
Trotz des überwiegend positiven Gesamturteils gibt es weit verbreitet latentes Misstrauen, das neben Medien auch Experten trifft. Einerseits weiß die große Mehrheit, dass sie bei ihrer Meinungsbildung auf Medien und auf Experten angewiesen ist. Gleichzeitig schließen sich jedoch 61 Prozent einer Position an, die in einem Interview geäußert wurde: „Auf das Urteil von Experten gebe ich im Allgemeinen nicht viel. Diese sogenannten Experten sind meist nicht unabhängig. Deshalb kann man sich auf ihr Urteil nicht verlassen.“
Man muss immer berücksichtigen, dass der gesellschaftliche Diskurs von realen Entwicklungen, aber auch von Interessen und Weltbildern bestimmt wird. Dabei stehen Interessen und Weltbilder oft in Konkurrenz zu den Fakten. Das Misstrauen gegen Fakten und Expertise hat daher auch mit der Sorge zu tun, dass dadurch politische Entscheidungen präjudiziert werden, die quer zu den eigenen Wünschen und Interessenlagen stehen. Beispielsweise ist die Bevölkerung sehr gut über die Folgen der demographischen Entwicklung für die sozialen Sicherungssysteme informiert, die Fakten sprächen für tiefgreifende Reformen, die aber von der großen Mehrheit nicht gewünscht werden.
Fakten stören, wenn sie eigenen Wünschen widersprechen
Immer wenn Interessen oder Weltbilder im Spiel sind oder eine gesellschaftliche Debatte aufgeladen ist, treffen faktenbasierte Argumente auf erhebliche Gegenwehr. Wenn beispielsweise eine Expertendiskussion über die Frage simuliert wird, wie viele Flüchtlinge Deutschland aufnehmen kann, und ein Zuhörer aufspringt und protestiert „Was interessieren mich Zahlen und Statistiken in diesem Zusammenhang. Wie kann man überhaupt so kalt über eine Entwicklung reden, die unsere gesamte Gesellschaft verändert!“, geben 50 Prozent diesem Protest recht. Wenn der Protest sich dagegen richtet, dass man nicht anhand von Fakten über ein Thema reden dürfe, bei dem es um menschliche Schicksale geht, pflichten weniger, aber immerhin auch 43 Prozent dem Protest bei.
Seit Jahrzehnten arbeitet das Allensbacher Institut mit diesem Fragemodell, abhängig vom Thema stimmen in der Regel breite Bevölkerungskreise dem Protest gegen eine auf Fakten fokussierte Expertendebatte zu: wenn über die Kürzung von Sozialleistungen diskutiert wird, zwei Drittel der Bürger, ebenso viele bei einer Diskussion über die Sicherheit von Kernkraftwerken, bei dem Thema Klimawandel 38 Prozent. Die Sorge, dass Fakten politische Entscheidungen determinieren, dass sie persönliche Interessen und Wünsche an den Rand drängen, spielt hier eine große Rolle.
Für die Anhänger von Trump sind Fakten zur Wanderungsbilanz zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten irrelevant bis störend, wenn es um ihren Wunsch nach Abschottung geht. Genauso spielt die faktisch niedrige Arbeitslosenquote keine Rolle, wenn die Arbeitsmarktbilanz als desaströs beschrieben wird, aber verbunden mit der Ankündigung neuer Jobs. Was zählt, sind zunächst die Ziele, die Versprechen. Schwierig wird es dann, wenn geweckte Erwartungen und Hoffnungen sich nicht erfüllen.
Renate Köcher ist Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie Allensbach