Allensbach-Analyse : Im Namen des Volkes
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Respekt und Vertrauen: Das Bundesverfassungsgericht genießt unter den Bundesbürgern großes Ansehen. Bild: dpa
Die meisten Deutschen glauben, Reiche hätten vor Gericht bessere Chancen. Einzelne Urteile werden in Frage gestellt. Trotzdem fühlen sie sich im deutschen Rechtssystem laut einer aktuellen Analyse gut aufgehoben.
In letzter Zeit gab es wiederholt Gerichtsurteile, die große öffentliche Aufmerksamkeit und viel Kritik erregten. Ob die Aufarbeitung des Falles Mollath, die 100-Millionen-Dollar-Einigung mit Bernie Ecclestone oder der Verlauf des Prozesses gegen Uli Hoeneß – durchgängig waren diese Prozesse dazu angetan, Zweifel an der Justiz zu nähren. Dazu kommen Urteile, die dem Rechtsempfinden der meisten Bürger widersprechen. Dazu gehört das Urteil, dass Internetprovider die Namen derjenigen nicht preisgeben müssen, die im Internet anonym mit nachweislich falschen Behauptungen den Ruf von Ärzten oder anderen Berufsgruppen schädigen; lediglich ein Fünftel der Bevölkerung kann das nachvollziehen, 62 Prozent halten es für falsch. Auf noch mehr Ablehnung trifft das Urteil des Europäischen Gerichtshofes, dass Türken, die ihrem Ehepartner nach Deutschland nachziehen, künftig kein Test ihrer deutschen Sprachkenntnisse mehr abverlangt werden darf.
So kritisch diese Urteile auch aufgenommen wurden, es ist nicht zu erkennen, dass sie das Grundvertrauen in die deutsche Justiz erschüttert hätten. Dieses Vertrauen ist groß: Zwei Drittel der Bürger haben großes Vertrauen in die deutschen Gerichte, nur 29 Prozent wenig und ganze fünf Prozent keinerlei Vertrauen. Über die vergangenen Jahre hinweg schwankte der Vertrauenspegel zwischen 60 und 71 Prozent.
Ein Aufschwung im Osten
Dahinter verbirgt sich ein sehr bemerkenswerter Befund: Es gibt zwischen West- und Ostdeutschland keine signifikanten Unterschiede mehr, ganz anders als noch vor fünf Jahren. Lange Zeit war das Vertrauen in die Justiz wie in die Gesetze und andere Institutionen in Ostdeutschland gravierend niedriger als in Westdeutschland. Noch 2008 bekundeten 65 Prozent der westdeutschen, aber nur 45 Prozent der ostdeutschen Bevölkerung großes Vertrauen in die Rechtsprechung. Seither ist das Vertrauen im Osten von 45 auf 64 Prozent angewachsen.
Generell ist das Vertrauen in das gesamte Rechtssystem groß, in die Gesetze wie in die Rechtsprechung nach diesen Gesetzen. Nichts reicht an das Vertrauen heran, das insbesondere das Grundgesetz und das Bundesverfassungsgericht genießen. 87 Prozent der Bürger setzen großes Vertrauen in das Grundgesetz, 79 Prozent in das Bundesverfassungsgericht, 72 Prozent generell in die Gesetze der Bundesrepublik. Lediglich die Polizei genießt ähnlich großes Vertrauen wie Gesetze und Justiz. Das Grundvertrauen in die Justiz strahlt sogar auf den Europäischen Gerichtshof (EuGH) aus, dem die Bürger ungleich mehr Vertrauen entgegenbringen als der Europäischen Kommission.
Sorge um das Grundgesetz
Das Grundgesetz gilt heute als eine der größten Leistungen und Erfolge des Landes. 60 Prozent zählen das Grundgesetz zu den größten historischen Leistungen der Bundesrepublik. Im Blick auf die europäische Integration wächst allerdings die Sorge, dass dieser bewährte Rechtsrahmen beeinträchtigt werden könnte. Zwei Drittel der Bürger diagnostizieren einen Bedeutungsverlust des Grundgesetzes durch die europäische Integration, wobei die meisten allerdings den Eindruck haben, dass der Einfluss von Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht bisher nicht gravierend geschmälert worden ist.
Die Bürger unterschätzen im Allgemeinen den Einfluss der europäischen Ebene. Doch selbst da, wo das Verfassungsgericht sich erkennbar skeptisch der europäischen Politik beugte, wie im Fall der Rettungspakete für die überschuldeten Mitglieder der Eurozone, war schon allein die Tatsache, dass das Gericht sich ausführlich mit den Problemen beschäftigte, für viele Bürger eine Beruhigung.
Aversion gegen EuGh
Wie schwer sich die Bevölkerung mit dem Transfer von juristischen Kompetenzen auf die europäische Ebene tut, zeigt die verbreitete Aversion gegen den Einfluss des EuGH. Obwohl die Mehrheit ihr Grundvertrauen in die Justiz auch auf den Europäischen Gerichtshof überträgt, kann sich nur eine Minderheit dafür erwärmen, dass dieses Gericht über Fälle urteilt, die zunächst ausschließlich Deutschland betreffen, wie dies der Fall bei dem jetzt untersagten Nachweis von Sprachkenntnissen für nachziehende türkische Ehepartner war. 50 Prozent möchten solche Entscheidungen ausschließlich deutschen Gerichten vorbehalten.
Das überwältigende Vertrauen in das Bundesverfassungsgericht bedeutet jedoch nicht, dass die Mehrheit in der Regel mit den Karlsruher Entscheidungen konform geht. Viele Urteile decken sich zwar mit dem Rechtsempfinden der Mehrheit. Das gilt ebenso für das Urteil, dass Telefon- und Internetverbindungen nur bei konkretem Tatverdacht ausgewertet werden dürfen, wie für die grundsätzliche Genehmigung von Auslandseinsätzen, wenn sie der Bundestag beschlossen hat. Zwei Drittel akzeptieren auch das Urteil, dass Hilfszahlungen an Mitgliedsländer der Eurozone zulässig sind, wenn die Mehrheit des Bundestages sie befürwortet.
Zweifel an einzelnen Urteilen
Das Urteil, das dem Staat das Recht zugesteht, muslimischen Lehrerinnen das Tragen des Kopftuchs im Unterricht zu untersagen, wurde von 69 Prozent unterstützt, das Verdikt, eingetragene gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften steuerlich wie Ehepaare zu behandeln, von 62 Prozent. Auch dass Karlsruhe die Latte für ein Verbot von Parteien hoch gelegt hat und verfassungsfeindliche Ansichten als dafür nicht ausreichend bewertete, hält die Mehrheit für richtig.
Auf der anderen Seite haben die meisten ein Problem mit dem Schutz des Demonstrationsrechtes durch die Verfassungsrichter, die urteilten, dass Demonstrationen auch dann nicht verboten werden dürfen, wenn es zu gewaltsamen Ausschreitungen kommen könnte. Die Mehrheit hält es auch nicht für richtig, wenn Eltern verlangen dürfen, dass in staatlichen Schulen ein Kreuz im Klassenzimmer abgehängt wird. Auch mit der Erlaubnis von sogenannter Schockwerbung von Unternehmen tut sich die Mehrheit schwer, wie auch mit dem Verbot, heimliche Vaterschaftstests vor Gericht als Beweis vorzulegen.
Justitia nicht für blind befunden
Dies tut dem Vertrauen in das Verfassungsgericht jedoch keinen Abbruch, wie auch einzelne kontrovers diskutierte Urteile anderer Gerichte das Zutrauen in die Justiz kaum beeinträchtigt haben. Das gilt auch für die Ebene unterhalb des Verfassungsgerichts. Während die große Mehrheit kein Verständnis für das Urteil zum Schutz der Anonymität im Netz hat, halten umgekehrt 90 Prozent das Urteil für richtig, dass Google zur Löschung von Informationen verpflichtet werden kann, die dazu angetan sind, Persönlichkeitsrechte zu verletzen.
Dass andere Urteile oder Vergleiche, die kritisch aufgenommen wurden, das Ansehen der Rechtsprechung nicht angegriffen haben, hat allerdings auch damit zu tun, dass die Blindheit von Justitia nach Überzeugung der meisten immer eine Schimäre war. Nur eine Minderheit glaubt, dass in Deutschland jeder Bürger die gleichen Chancen hat, zu seinem Recht zu kommen. 61 Prozent halten die Rechtsprechung für uneinheitlich und damit die Chancen in hohem Maße abhängig davon, vor welchem Gericht und Richter man steht.
Geld und Prominenz ausschlaggebend?
Noch mehr sind überzeugt, dass die materiellen Verhältnisse großen Einfluss auf die Chancen vor Gericht haben: 71 Prozent glauben, dass derjenige, der sich einen bekannten Anwalt leisten kann, bessere Chancen hat. Geld und Prominenz verbessern nach Überzeugung der Mehrheit die Voraussetzungen für ein mildes Urteil. Auch im Fall Hoeneß hatten die meisten den Eindruck, dass er durch seine Prominenz Vorteile hatte. Bei Ecclestone verblüffte höchstens die Vergleichssumme. Ansonsten „passte“ der Fall in das Weltbild, dass Geld in fast jeder Lebenslage hilft, die Umstände angenehmer zu gestalten.
Insgesamt meinen jedoch die meisten, sofern sie sich ein pauschales Urteil zutrauen, dass die meisten Urteile richtig und gerecht sind. Allerdings ist knapp die Hälfte überzeugt, dass die Urteile oft zu milde ausfallen. Insbesondere junge Straftäter können nach dem Eindruck vieler Bürger oft auf zu große Nachsicht hoffen.
Hauptkritik: Gerichte überlastet
Die Hauptkritik am deutschen Justizsystem setzt jedoch an der Überlastung der Gerichte und den daraus resultierenden Verfahrensdauern an. Vor vier Jahren waren 74 Prozent der Bürger überzeugt, dass viele Verfahren zu lange dauern, zwei Jahre später 77 Prozent, jetzt 81 Prozent. Der Eindruck, dass viele Gerichte überlastet sind, hat im selben Zeitraum von 60 auf 71 Prozent zugenommen. Entsprechend glaubt auch nur eine Minderheit, dass die Gerichte ausreichend Zeit haben, um gewissenhaft zu arbeiten. Richter und Staatsanwälte bestätigen in Befragungen diesen Eindruck. Die überwältigende Mehrheit zieht die Bilanz, dass sie sich für die einzelnen Rechtsfälle nicht genügend Zeit nehmen können. Das gilt insbesondere für diejenigen, die an Sozialgerichten arbeiten, während die Situation an den Arbeits- und Finanzgerichten im Durchschnitt deutlich günstiger ist.
Die große Mehrheit empfindet Deutschland als gefestigten und verlässlichen Rechtsstaat, und viele fühlen sich durch eigene Erfahrungen bestätigt. Rund 30 Prozent haben in den vergangenen Jahren als Zeuge, Kläger oder Beklagter Erfahrungen mit dem Rechtssystem gemacht. Neben der Aufmerksamkeit für spektakuläre Fälle stehen damit zahlreiche Erfahrungen mit der alltäglichen Rechtsprechung, die wesentlich zu dem stabilen Vertrauen in die Justiz beitragen.
Bastion der politischen Ordnung
Viele sehen in der Justiz jedoch auch eine Bastion, mit der die politische und gesellschaftliche Ordnung des Landes verteidigt wird. Dies gilt beispielsweise für die Rolle des Verfassungsgerichts im Prozess der europäischen Integration genauso wie für die Verteidigung der deutschen Werteordnung in einem Land, in dem zunehmend unterschiedliche kulturelle Prägungen aufeinandertreffen.
Die Gerichte sind immer mehr mit Fällen konfrontiert, in denen kulturelle Prägungen aus anderen Kulturkreisen eine Rolle spielen. Die überwältigende Mehrheit erwartet hier, dass nach der geltenden Rechtsordnung und den in ihr enthaltenen Wertvorstellungen Recht gesprochen wird ohne Berücksichtigung der Herkunft und kulturellen Prägungen der Prozessbeteiligten. Der Justiz wird damit eine wesentliche Integrationsfunktion zugeschrieben, die Durchsetzung der Maßstäbe und Werte, auf denen das deutsche Recht aufbaut, in einer immer heterogeneren Gesellschaft.