Oberst Axel Hermeling hat es eilig. In der vergangenen Nacht hat die afghanische Armee die Straße zwischen Kundus und Khanabad von den Taliban zurückerobert. Das ist ein wichtiger Erfolg. Hermeling will den afghanischen Kommandeur persönlich beglückwünschen. Von dem kleinen deutschen Posten innerhalb des afghanischen Feldlagers „Camp Pamir“ macht er sich auf den Weg. Das Feldlager liegt auf einem Plateau oberhalb der nordafghanischen Provinzhauptstadt Kundus unweit der ehemaligen deutschen Kaserne. Dort hatte die Bundeswehr einst bis zu 1500 Soldaten stationiert. Vor drei Jahren sind sie abgezogen. Nun sind 65 deutsche Soldaten zurück in Kundus: Militärberater, Sanitäter und Infanteristen. Das „Camp Pamir“ dürfen sie nicht verlassen. Die Deutschen sind hier, weil es den Taliban vor einem Jahr gelungen war, vorübergehend Kundus einzunehmen und damit erstmals seit 2001 eine ganze Stadt. Das soll sich nicht wiederholen. Die Bundeswehrsoldaten sollen die afghanische Armee dabei unterstützen, dies zu verhindern.

Im Zermürbungskrieg gegen die Taliban
Von MARCO SELIGER11.09.2016 · Ein Jahr nach der vorübergehenden Einnahme von Kundus durch die Taliban ist die Stadt im Norden Afghanistans abermals bedroht. Deutsche Soldaten stehen als Berater an der Seite der Afghanen.
Hermeling ist seit knapp neun Monaten Chefberater der Bundeswehr für die ranghöchsten afghanischen Offiziere in Nordafghanistan. Selten hat er in dieser Zeit länger als fünf, sechs Stunden geschlafen. „Gratulation zum Sieg auf Highway 3, General“, sagt der Mittfünfziger aus Oldenburg, als er auf den stellvertretenden Generalstabschef der afghanischen Armee, Murad Ali Murad, trifft. Der zweithöchste Militär Afghanistans ist extra aus Kabul nach Kundus gekommen, um die Angriffe persönlich zu führen.
Der General gilt in Afghanistan als Held. Als er vor einigen Wochen in Kundus ankam, hat er am Flugplatz eine Rede vor Einwohnern gehalten, die aus Angst vor einer abermaligen Einnahme der Stadt durch die Taliban fliehen wollten. „Geht heim“, sagte er, „ich garantiere euch, sie werden nicht noch einmal zurückkommen.“ Die Leute glaubten ihm und gingen nach Hause. Der General könne sehr überzeugend sein, erzählt man in Kundus. Nachdem Murad die Führung übernommen hatte, habe er sich von jedem Kommandeur die Lage darstellen lassen. „Er stellt ein paar Fragen, hört schweigend zu und durchdringt die Leute dabei mit funkelnden Augen“, schildert Axel Hermeling.
Wer ihn nicht von seiner Eignung überzeugen kann, den entfernt er umstandslos von seinem Posten. Sein Bannstrahl trifft vor allem Kommandeure, die selbst lieber in Deckung bleiben, während sie ihre Soldaten in die Schlacht schicken. „Sie hätten mal sehen sollen, wie das hier auf einmal lief“, sagt Hermeling. Die Armee, sonst überwiegend in Verteidigungshaltung, ging plötzlich zum Angriff über.

Seit Jahren führen die Taliban in Kundus einen Guerrillakrieg gegen die Regierungstruppen, die lange Zeit von deutschen und amerikanischen Bodentruppen unterstützt wurden. Der Kampf tobt um immer dieselben Gebiete und Orte; in den Distrikten Qala-i-Zal, Imam Sahib, Chahar Darah, Khanabad und Aliabad; vornehmlich aus paschtunischen Siedlungen führen die Aufständischen ihre Angriffe. Mal erlangt die eine Seite die Überhand, dann die andere. Der Regierung ist es nicht gelungen, auch nur eines der Gebiete nachhaltig unter ihre Kontrolle zu bringen. Meist dauert es einige Monate, dann sind die Taliban zurück. Es ist der ewige Kreislauf des Krieges in Kundus.
Seit Jahresbeginn ist Assadullah Omarkhel der Gouverneur von Kundus. Als er hört, dass sich im „Camp Pamir“ oberhalb der Stadt ein deutscher Journalist aufhält, setzt er sich in seinen gepanzerten Jeep und kommt, geschützt von seiner Privatmiliz, ins Militärlager. Er wolle der deutschen Bevölkerung erklären, was in Kundus los sei, sagt der Gouverneur. Der Grund dafür ist einfach: Omarkhel möchte, dass sich die Deutschen wieder stärker in Kundus engagieren. Nicht nur die Soldaten sind abgezogen, auch deutsche Entwicklungshelfer gibt es hier nicht mehr. Kundus war einmal das Vorzeigebeispiel für die deutsche Aufbauhilfe in Afghanistan. Nun fließt immer weniger ausländisches Geld hierher. Das würde Omarkhel gern ändern.
Die Taliban, sagt er, hätten Hunderte erfahrene Kämpfer in das Gebiet geschickt, ausgerüstet mit schweren Waffen und einer neuen Kampftaktik. Sie griffen in kleinen Gruppen von zehn bis 20 Mann an – aus mehreren Richtungen gleichzeitig. Auf diese Weise verbreiteten sie Angst und Schrecken. Vor kurzem attackierten sie auf diese Weise wieder die Stadt Kundus. Sie überfielen Kontrollpunkte der Polizei, sprengten eine Brücke und besetzten ein Distriktzentrum. Das reichte, um die Soldaten der afghanischen Armee zum fluchtartigen Rückzug zu bewegen und in der Bevölkerung von Kundus Panik auszulösen. Die traumatischen Erinnerungen an die vorübergehende Eroberung der Stadt durch die Taliban im Herbst vergangenen Jahres sind noch frisch. In den 14 Tagen der Besatzung waren Hunderte Menschen getötet oder verletzt worden – die meisten im Kreuzfeuer zwischen den Taliban und der Armee. Es kam zu Plünderungen und gewaltsamen Übergriffen. Viele Bewohner harrten in Todesangst tagelang ohne Wasser und Nahrung in ihren Kellern aus.
Nach den jüngsten Angriffen im August trafen sich General Murad und Gouverneur Omarkhel in der Stadt und liefen demonstrativ durch die Straßen, um die Leute zu beruhigen. Deutsche Soldaten sagen, die Taktik der Taliban, sich stärker darzustellen, als sie seien, sei „sehr geschickt“. Für Gouverneur Omarkhel folgt das alles einem langfristigen Plan. „Die Taliban wollen die Gesellschaft spalten und die Provinz ins Chaos stürzen“, sagt er. Sie seien keine einfachen Bauern mit Waffe in der Hand, wie die westlichen Militärs meinten, sondern gut trainierte Terroristen. „Wenn uns Deutschland und Amerika nicht helfen, gibt es hier bald wieder eine Katastrophe.“ Er meint damit eine abermalige Einnahme der Stadt durch die Taliban.
Oberst Hermeling tut, was er kann, damit es dazu nicht kommt. Als die Taliban vor kurzem die Distrikthauptstadt von Khanabad eroberten und die Straße von Kundus nach Osten in ihrer Hand war, ist er zu den afghanischen Kommandeuren gegangen und hat sie gefragt, ob sie bei der Rückeroberung eine andere Taktik als sonst anwenden wollten. Gedacht hat er sich, sie sollten nicht frontal drauflos, sondern von mehreren Seiten gleichzeitig angreifen, so wie es inzwischen auch die Aufständischen machen. Gesagt hat er das aber nicht. Die Afghanen reagierten empfindlich, wenn sie den Eindruck gewönnen, man wisse alles besser. „Sie müssen von selbst darauf kommen“, erklärt Hermeling. Früher hat die Bundeswehr die Angriffspläne selbst geschrieben und den Afghanen gesagt, was sie tun sollen. Heute, sagt Hermeling, sei er nur noch Ratgeber. Mehr darf er nicht, und für mehr hat die Bundeswehr auch gar nicht das Personal in Kundus. Nur eine Handvoll deutscher Offiziere berät die Afghanen, dies auch nur „vorübergehend“ und „anlassbezogen“, wie es im Einsatzmandat formuliert ist.
Vor einigen Wochen, mitten in der Offensive der Taliban, musste Hermeling für zwei Wochen zurück ins 200 Kilometer entfernte Mazar-i-Sharif. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, die Soldaten hielten sich dauerhaft in Kundus auf, lautete die Begründung. Anders gesagt: Die Bundesregierung will nicht, dass die Bundeswehr wieder stärker in den Krieg verwickelt wird.
Auf die Entwicklungen im deutschen Einsatzgebiet kann die Bundeswehr so nur schwer reagieren. Das ist seit Beginn des Afghanistan-Engagements so gewesen, doch das, was in dem Land nun läuft, gibt es selten auf der Welt. Afghanistan muss Krieg führen, während seine Armee noch im Aufbau steckt. Viele Kommandeure sind ungeeignet, die Zahl der Fahnenflüchtigen und Gefallenen ist hoch. Immerhin haben die Afghanen inzwischen ein paar eigene Kampfflugzeuge und Transporthubschrauber. Dennoch hatten sie dem afghanischen Fernsehsender Tolo-News zufolge in den ersten sechs Monaten mehr als 1000 Gefallene zu beklagen. Im Vergleich zum Vorjahr ist das ein Anstieg um 37 Prozent.
Der Trend setzte sich im Juli und August fort. Die Armee steuert auf die höchste Verlustrate ihrer Geschichte zu. Besonders im Raum Kundus sind die Opferzahlen hoch. Unter den Provinzen mit der höchsten Gewaltrate rangiert die Provinz laut des halbjährlichen Sicherheitsberichts des Senders Tolo inzwischen nach Nangarhar im Osten auf dem zweiten Platz und damit noch vor den in der Vergangenheit deutlich stärker umkämpften Provinzen Kandahar und Helmand im Süden. Eine frappierende Entwicklung: Früher galt der von Deutschland verantwortete Norden als relativ sicher. Axel Hermeling kennt die gravierenden Verluste der Armee nur zu gut. Die Afghanen klingeln ihn regelmäßig aus dem Bett, wenn mitten in der Nacht wieder verwundete Soldaten vor dem Eingang des Lazaretts im „Camp Pamir“ angeliefert wurden. Die Taliban greifen inzwischen häufig in der Dunkelheit an, sie sind mit Nachtsichtgeräten ausgerüstet. „Diese Geräte kann man in Pakistan für ein paar hundert Dollar kaufen“, erklärt ein deutscher Soldat. Der größte Teil der afghanischen Armee ist nicht nachtkampffähig.
Hermeling sieht das ganze Elend dieses Krieges, junge Soldaten Anfang zwanzig, zerfetzt von Bomben und Granaten. Die Ärzte bitten ihn, ihre Leute mit deutschen Rettungshubschraubern ins afghanische Krankenhaus nach Mazar-i-Sharif bringen zu können. Das ist besser ausgerüstet als das Feldlazarett in Kundus. Für Hermeling eine Selbstverständlichkeit. „Das sind Kameraden, wir helfen ihnen, wo wir können“, sagt er. Allerdings hat die Bundeswehr nur zwei Rettungshubschrauber in Afghanistan, die sie in erster Linie für eigene Verletzte und die von Nato-Verbündeten benötigt. Deshalb muss eine Bundeswehrärztin die Verwundungen der afghanischen Soldaten kategorisieren. Wer keine Aussicht hat, den einstündigen Flug zu überleben, der bleibt gleich in Kundus.
Ein paar Tage nach der Eroberung von Khanabad durch die Taliban griff die afghanische Armee den Ort von drei Seiten an, so wie es der deutsche Oberst sich gedacht hatte. Die Taliban reagierten überrascht und flüchteten aus ihren Stellungen. Sofort verkündete die Armee ihren Erfolg bei Twitter und Facebook. Um Kundus wird nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Worten gekämpft.
Die Aufständischen führten einen ausgeklügelten Propagandakampf, sagt Timor Sharan von der Denkfabrik International Crisis Group in Kabul. Die meisten Orte nähmen sie nur kurz ein, hissten ihre Fahne, machten ein paar Fotos, veröffentlichten sie im Internet und verschwänden, ehe die Armee anrücke. „Das genügt, um bei der Bevölkerung das Gefühl zu erzeugen, die Regierung könne sie nicht beschützen“, erklärt er. Unter diesem Eindruck, äußert Sharan, gehe völlig unter, dass die Taliban militärisch nicht in der Lage seien, einen größeren Ort länger zu halten. Auch sie hätten erhebliche Verluste. Tolo-News berichtet von 7000 toten Taliban im ersten Halbjahr. Ein Abnutzungskampf, den laut Sharan keine Seite gewinnen kann.

Wie dieser Kampf aussieht, zeigt sich bei der Rückeroberung der Straße zwischen Kundus und Khanabad. Die Strecke ist 13 Kilometer lang, alle zwei Kilometer gibt es einen festungsartig ausgebauten Kontrollposten. Um den Vormarsch der Armee zu verlangsamen, haben die Taliban Schiffscontainer auf die Straße gestellt. Die Soldaten können die Hindernisse erst entfernen, nachdem sie Dutzende Sprengsätze in und unter den Containern sowie an den Straßenrändern entschärft haben. Das gibt den Taliban genügend Zeit für den Rückzug und kostet die Armee weitere Opfer, weil die Bomben so geschickt verlegt sind, dass nicht alle von den Experten entdeckt werden. Auf dem Schrottplatz im „Camp Pamir“ stehen Dutzende Armeefahrzeuge, von denen nach einer Bombenexplosion nur noch ein gestauchter Blechhaufen mit Blutspuren übrig geblieben ist.
Die Lage in Kundus ist symptomatisch für die Situation in Nordafghanistan, wo die Bewohner tief verunsichert sind. Selbst die Straße nach Kabul ist inzwischen nicht mehr sicher. Im Süden in der Provinz Kandahar dagegen klagten die Menschen nicht mehr über die Gewalt, sondern über fehlende Jobs, berichtet der Sprecher der Nato-Mission in Kabul, der amerikanische Brigadegeneral Charles Cleveland. Wohl auch, weil der Krieg dort schon viele Jahre länger tobt. Selbst in der Region um Mazar-i-Sharif, wo die Bundeswehr noch immer ein Feldlager mit knapp 1000 Soldaten betreibt, steigt nach Angaben eines Sicherheitsanalysten der Nato die Zahl der Anschläge und Angriffe. Ursache sei die ethnische Fragmentierung der Region. Terrorgruppen und Taliban schürten gezielt den Konflikt zwischen Usbeken, Tadschiken, Hazara und Paschtunen. „An vielen Stellen im Norden braut sich was zusammen“, sagt er. Am Flughafen von Mazar-i-Sharif berichten Reisende, mehr als 30 Kilometer weit trauten sie sich nicht mehr aus der Stadt. Die Lage sei zu unsicher geworden. Bei der Nato in Kabul heißt es, Militärberater würden noch längere Zeit gebraucht. Mindestens bis 2022.
Quelle: F.A.Z.
Veröffentlicht: 11.09.2016 18:13 Uhr
