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Frankfurter Zeitung 25.12.1929 : Wie kann es ein friedliches Europa geben?

  • Aktualisiert am

Europäische Politiker, unter ihnen Aristide Briand (1.v.l.) und J.A. Chamberlain (2.v.l.) bei einer Sitzung des Völkerbunds um 1926. Bild: Picture-Alliance

Wettrüsten oder Kooperation? Zu Weihnachten wünscht sich der Autor eine „Gemeinschaft der Nationen“ – und warnt gleichzeitig vor einem neuen Krieg, wenn nationalistisches Gedankengut weiter salonfähig bleibt.

          6 Min.

          [...] Europa steht am Scheidewege. Es kann entweder zurücksinken in nur auf sich selbst bedachten nationalen Egoismus mit der unausbleiblichen Gefolgschaft von Armut und einem neuen Weltkrieg oder es kann voranschreiten auf dem Wege zur Einheit, zum Wohlergehen und zum Frieden. Es muß sich aber entscheiden, welchen Weg es gehen will; es kann nicht stehenbleiben.

          Die Straße der einzig auf sich bedachten nationalen Selbstsucht ist vorgezeichnet durch die nationale Tradition, durch Sprache, Kultur und Rasse und durch alle die Kräfte der nationalen Gemeinschaft, die man gemeinhin unter dem Wort Nationalität zusammenfaßt. Diese Kräfte zwingen uns, nur an uns selbst zu denken, um groß und reich und mächtig zu werden und unser Schicksal kühn und ohne Furcht herauszufordern. Sie behaupten, daß es der Rasse, die am stärksten für sich einsteht, am besten ergehen wird, daß das Leben ein Kampf sei und daß nur jene den Platz an der Sonne haben werden, die ihn sich nehmen und die ihn in diesem Kampfe festzuhalten verstehen. Eine derartige Auffassung rechnet mit der Wahrscheinlichkeit eines Krieges; ja sie macht de facto ihn sogar unabwendbar,  und mit ihm Armut, Schwäche und die Vernichtung aller feineren Instinkte der menschlichen Natur.

          Sie macht Krieg auf folgenden Gründen unabwendbar: Zu allererst wäre in einem rein nationalistischen Europa jede Nation gezwungen, alle internationalen Fragen zunächst und in der Hauptsache von ihrem eigenen selbstischen Standpunkt aus zu beurteilen. Sie würde keine Rücksicht auf die Rechte und Bedürfnisse der Gegenseite oder der Völker Europas als Gesamtheit nehmen können. Internationale Beziehungen würden daher mehr und mehr gleichbedeutend werden mit chronischen internationalen Auseinandersetzungen.

          Wenn diese Auseinandersetzungen anfangen würden, hitziger zu werden, so würde es für den souveränen nationalistischen Staat kein Mittel geben, den Kriegsausbruch oder auch nur die Kriegsandrohung zu verhindern. Es gäbe dann keinen Appell an die Vernunft oder an ein unparteiliches Schiedsgericht oder an irgendeine Körperschaft. Der das Wohlergehen Europas und das Wohl der Welt am Herzen läge.

          Aufrüstung als Folge nationalen Denkens

          Der Stärkere allein würde entscheiden. Daher würden Rüstungen die notwendigen Begleiterscheinungen eines derartigen Ultranationalismus sein, Rüstungen, schon um nur die eigenen Rechtsansprüche zu sichern, Rüstungen, um die nationalen Güter zu erhalten, Rüstungen für die Selbstverteidigung. Aber keine gesunde Nation würde sich in einer sich rasch verändernden Welt von miteinander konkurrierenden und nur auf sich selbst bedachten nationalistischen Staaten mit Rüstungen zufriedengeben, die womöglich offenkundig den Rüstungen der Nachbarstaaten unterlegen sind.

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          Sie muß sich dafür sichern, daß sie im Falle eines Zwistes siegreich bleibt oder daß mindestens Sicherheit garantiert ist. Mit anderen Worten würde jede Nation sich also soweit sichern müssen, daß sie ausreichend genug gerüstet ist, um jedem Nachbarn oder Rivalen widerstehen zu können. Ihre Nachbarn aber müssen auf ganz die gleiche Art ihre Sicherheit zu verankern suchen. Das ist auch die Ursache gewesen zu dem Argwohn und dem unausbleiblichen Rüstungswettstreit der Nationen, der schließlich in einer allgemeinen Militarisierung, in militärischen Bündnissen und in „Machtpolitik“ und Krieg endete, wovon die ganze europäische Geschichte erfüllt ist seit der Zerstörung des Römischen Reiches.

          Aber das ist noch nicht alles, Denn gerade weil die Sicherheit einer jeden Nation in ihren Rüstungen begründet zu liegen scheint, ist es so unmöglich, zu einer gerechten Regelung der internationalen Streitfragen zu kommen, selbst wenn die Nationen des besten Willens sind, weil nämlich, solange Krieg als die „ultima ratio“ angesehen wird, die Nationen gar keine Lösungen annehmen werden, die ihre strategische Sicherheit irgendwie aufs Spiel setzen. Das war zum Beispiel auch der Hauptgrund, weshalb im Versailler Vertrag der Anschluß verboten wurde. In einem Europa von nur auf sich selbst bedachten Nationalstaaten werden strategische Tüchtigkeit und nicht Gerechtigkeit, strenge Vorschriften und Angst, Eifersucht, Argwohn, Gier, Ehrgeiz und betrug die geistige Atmosphäre beherrschen, währen physischer Mut und blinder Gehorsam bis zum Ausschluss fast aller anderen Tugenden verherrlicht werden würden.

          Nationalismus führt zu Armut und Arbeitslosigkeit

          Ferner ist unausbleibliche Begleiterscheinung nationaler Selbstsucht wirtschaftliche Abgeschlossenheit nach außen hin, Zölle, einseitige Industrieunterstützungen und ähnliche Hindernisse und Erschwerungen ökonomischer Art. Jede Nation wird danach trachten, in erster Linie alles für seinen eigenen begrenzten Markt zu produzieren, mit dem unausbleiblichen Ergebnis, daß die Preise steigen werden und daß das Kapital zur Neugründung von Fabrikationsbetrieben verschwendet werden wird, ohne damit auch nur im entferntesten dem Uebermaß der europäischen Bedürfnisse gerecht zu werden; die Arbeitslosenziffern werden steigen, die Löhne niedrig sein – und jeder Staat wird versuchen, seine eigene Arbeitslosigkeit selbst zu lösen, indem er auf die Fabrikanten und auf den Weltmarkt einwirkt –, und die wirtschaftliche Stagnation wird langsam anwachsen in dem selben Verhältnis, wie die den Welthandel beschränkenden Zollschranken ständig zunehmen werden.

          Man sagt manchmal, daß wirtschaftliche Gründe die eigentlichen Kriegsursachen seien. Aber das genaue Gegenteil ist der Fall. Das Abirren der Wirtschaft durch Erwägungen politischer Art ist es, das in Wahrheit Kriege verursacht. Ueberließe man die Wirtschaft sich selbst, so würde sie wohl sehr rasch die Welt einen. Der Uebernationalismus führt nicht nur unerbittlich zum Krieg, sondern auch zu Armut und zu Arbeitslosigkeit, wo immer es auch sei.

          Zusammen ist man stärker

          Und wie sieht die andere Straße aus? Es ist die Straße, der Deutschland folgte, als es ein einiger Staat wurde an Stelle einer Zahl von schwachen und untereinander uneinigen Fürstentümern, oder England, Schottland und Wales, als sie ihre Kriege untereinander mit einem Zusammenschluß beendeten, oder die dreizehn amerikanischen Kolonien, als sie sich in eine Vereinigung zusammenfanden, eine Straße, der inzwischen auch Kanada, Australien und zahlreiche andere Länder gefolgt sind: die Straße politischer „Rationalisierung“. Es ist dies eine Straße, die, obgleich durch ihr Beschreiten keineswegs das Gute an der Nationalität, an Tradition, Rasse, Kultur und Sprache aufgehoben wird, doch erkennen läßt, daß, ebenso wie die einzelnen Menschen sich gehobener und sicherer fühlen, wenn sie Bürger einer Gemeinschaft werden, auch die Nationen gehobener und sicherer werden, wenn sie sich als die Mitglieder einer Gemeinschaft der Nationen bekennen und an das Wohl der Gesamtheit ebenso wie an ihr eignes Wohl zu denken beginnen.

          Es bedarf keiner großen Einbildungskraft, um sich vorzustellen, wie Europa aussehen würde, wenn seine historischen und auch heute noch bestehenden Argwohnempfindungen, Eifersüchteleien, Aengste und Haßgefühle durch ein Gefühl allgemeiner Verbundenheit und Gemeinsamkeit ersetzt würden, durch einen gesunden Wetteifer in dem, was jede Nation zum gemeinsamen Wohl der Welt beizusteuern vermag, sei es nun auf dem Gebiete der Wissenschaften, der Literatur, der Politik, der Wirtschaft oder der Religion. Es würde deshalb nicht weniger Mut nötig sein, wenn freilich auch mehr moralischer als physischer Mut, es würde nicht weniger Unternehmungsgeist nötig sein, aber es würde auch kein geringeres Gefühl von Vervollkommnung und Erfolg das Ergebnis sein.

          Aber das teuflische Gift von Angst und ständiger Gegnerschaft würde verschwunden sein, die Gelder, die jetzt für Rüstungen ausgegeben werden müssen, würden für die Sozialreform freiwerden, die Zölle würden verschwinden, das Geschäftsleben würde einen Aufschwung nehmen, alle würden Arbeit finden, die Lähne würden steigen, die Spareinlagen anwachsen, die Preise sinken, und jeder Einzelne würde eine größere Handlungsfreiheit sowohl in seinem wirtschaftlichen wie in seinem politischen Leben erlangen.

          So gibt es also zwischen den Wirkungen der beiden Systeme sowohl für das Individuum wie für die Nation wohl überhaupt keinen Vergleich. Dennoch besagt das noch keineswegs, daß es leicht sein wird, die Einheit Europas zustande zu bringen. Es ist ein langer und ein schmaler und enger Pfad dahin, und es gibt keine kurzen Abschnitte bis zum Ende. Der nationale Egoismus wird nicht so leicht auf eine Einigung eingehen. Immer noch sind in der alten Weltordnung Tradition und bestimmte Interessen stark.

          Es wird notwendig sein, das Vertrauen in den Fortschritt des Völkerbundes zu stärken und in zunehmendem Maße zu beweisen, daß es möglich ist, die inneren Angelegenheiten Europas auf friedliche Weise in Ordnung zu bringen, die Rüstungen überall bis auf einen annehmbaren Polizeistandard herabzuschrauben und von beiden Seiten des Weltkriegs her den Willen zu bekunden, die grundlegenden Entscheidungen der Jahre von 1914 bis 1918 über die Ideen der Demokratie und der nationalen Freiheit anzuerkennen und hinzunehmen, ebenso aber auch die sogenannten Friedensverträge zu revidieren, in denen Festlegungen enthalten sind, die durchaus davon abweichen, was in sich selbst gerecht ist und was dem Frieden, der Wohlfahrt und der Freiheit aller europäischen Völker wirklich dienlich sein kann.

          Für einen „Sieg im Frieden“

          Der Weg nach vorwärts wird noch nicht dadurch beschritten, daß man neue Einrichtungen ausdenkt oder den Versuch zu heroischen Maßnahmen unternimmt; sondern nur durch eine Vermehrung und Verstärkung der internationalen Beziehungen und Verständigungswege auf tausendfache Weise, durch Vertiefung der gegenseitigen Achtung vor der Kultur und den besonderen Fähigkeiten der anderen und durch die Verstärkung des Gefühls, daß Europa eine Gemeinschaft ist und nicht nur ein bloßes Narrenhaus der Nationen, wie ferner auch durch den Hinweis auf die Tatsache, saß die Abschaffung der Zölle in Wirklichkeit genau so dem Interesse jeder einzelnen Nation in Europa wie die Anwendung von Arbeitsschutzmaßnahmen dem der Arbeiter, die fürchten, daß sie durch sie ihre Arbeit verlieren könnten.

          Aber wenn wir auch für die nahe Zukunft noch nicht mit dem Beginn einer durchgreifenden Aenderung rechnen können – ja wenn wir uns vielleicht sogar auf einige Rückschläge gefaßt machen müssen – im Grunde kommt es doch nur darauf an, ob sich die führenden Geister Europas darüber einig sind, daß die Einigung Europas das Ziel sein soll oder ob sie immer noch schwanken zwischen dieser Einigung und ihrer nationalen Selbstsucht. Denn der Sieg im Frieden braucht größere Fähigkeiten als der Sieg im Krieg, nämlich Vorausblick, Vernunft, Urteilsvermögen, Mit und Geduld bis zum Ende.

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