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Frankfurter Zeitung 12.05.1929 : Sowjet-Russland blickt in die Zukunft

  • Aktualisiert am

Industrialisierung in Russland: Arbeiter bauen 1930 an der ersten Werkshalle der Gorki-Automobilwerke in Nischnij Nowgorod. Bild: Picture-Alliance

Im kommunistischen Staat ist der Blick nach vorne gerichtet – in ein rationalisiertes Leben. Bis ins kleinste Detail ist das Wirtschaftsleben durchgeplant. Ein Russlandreisebericht.

          5 Min.

          In der Ukraine, Ende April.
          Die ersten Notizen über das „Proletarische Sein“ in Sowjet-Rußland bedürfen in vielem und gerade im wichtigsten noch der Erweiterung und der Ergänzung. Denn das damit angeschnittene Thema, die pathetische Problematik des Menschlichen hier, führt an den tiefsten Kern des revolutionären Geschehens, das sich in der Sowjet-Union vollzieht. Aber ich muß mir dies für später aufsparen. Ich bin von Moskau weggefahren, um  das, was man mir dort an Dutzenden von Schreibtischen vortheoretisiert, demonstriert und doziert hat, im wirklichen Leben zu sehen. Und von dem bisher Geschehen gebe ich heute ein paar Bilder, Momentaufnahmen von Tatsächlichkeiten, die freilich auch nicht für sich allein stehen, sondern schon beispielhaft andeuten, was man hier praktiziert.

          Konjugieren im Futurum.

          In anderen Ländern spricht man von der Gegenwart: so sind wir, das tun wir – oder von der Vergangenheit: so wurden wir, das haben wir erreicht, oder gar: so gut hatten wir es früher. Im Sowjet-Lande konjugiert man das Futurum. Immer wieder hört man hier: wir werden, werden, werden – wir werden diese Industrie aufbauen, werden jene Produktion entwickeln, werden diese Preissenkung durchsetzen, werden jene Selbstkosten ermäßigen, und so fort in ewig gleichem Rhythmus. Mehr noch: hier hat man zu diesen Zukunftsversprechungen auch immer schon genaue Zahlenangaben fix und fertig zur Hand.

          Denn das Plänemachen hier geschieht ja auf der Grundlage eines riesenhaften Planes, der auf fünf Jahre im voraus die ganze wirtschaftliche Arbeit des ungeheuren Landes festlegen und bestimmen will, die Kapitalinvestierung und den Ausbau jedes einzelnen Betriebszweig, die Rationalisierung und Mechanisierung ebenso wie deren zahlenmäßigen Ertrag – unplanmäßig bleibt im Grunde nur zweierlei, nämlich das Wetter, das den Ernteausfall bestimmt, und die Liebe, die über die Zahl der Neugeborenen entscheidet (obwohl auch da schon sehr viel planmäßige Regulierung hineingreift). Dieser Fünfjahresplan enthält trotzdem natürlich reichlich viel Phantasie; die einjährigen Pläne, die in einem beständig revidierten Rahmen alljährlich aufgestellt werden, sind schon von erheblich größerer Realität. Aber es leuchtet ohne weiteres ein, daß dieses ganze Plänemachen zugleich eine ungeheure propagandistische Wirkung ausübt. Jeder einzelne Betrieb weiß auf Jahre hinaus, was die Gesamtheit von ihm erwartet; jeder einzelne Betriebsangehörige weiß es, denn der Plan wird unaufhörlich im Betriebe diskutiert.

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          Und während auf wirtschaftlicher Unfähigkeit nicht nur Herabsetzung auf der sozialen Leiter oder Entlassung, sondern unter Umständen auch Gefängnisstrafe steht – solche wirtschaftliche Unfähigkeit ist in schweren Fällen tatsächlich ein nach dem Strafgesetz zu verfolgendes Delikt – wird umgekehrt durch diese Pläne der Ehrgeiz mächtig angestachelt, wiederum der Ehrgeiz des einzelnen sowohl wie der Gruppenehrgeiz des Betriebes, und auch das wird nun planmäßig ausgenutzt, zum „sozialistischen Wettbewerb“ der einzelnen Betriebe untereinander, die sich öffentlich herausfordern, wer von ihnen am schnellsten ein gestecktes Ziel erreicht oder gar überschreitet.

          Außerdem: dieses Leben in Zukunftsplänen erleichtert für viele (nicht für alle) natürlich zugleich die Opfer und Entbehrungen der Gegenwart. Man suggeriert es sich selbst: jetzt sind wir noch im Engpaß, aber wir werden ins Freie kommen. Ein russisches Sprichwort sagt allerdings: „Die Küchlein zählt man im Herbst“ – erst am Ende bemißt man den Erfolg. Aber neue Gläubigkeit schlägt alte Weisheit leicht in den Wind. Und so versucht der Fremde vergeblich, dem ewigen „wir werden, werden, werden“, zu entgehen, indem er aus Moskau fortgeht – er hört es ebenso unaufhörlich im Lande draußen. Auch das Land konjugiert im Futurum. Und ebenso wie die Zentrale dekliniert auch das Land ununterbrochen das andere große Zukunftswort, den Amerikanismus.

          Klop.

          Meierhold spielt in einem Moskauer Theater mit großem Erfolge als Serienstück eine Satire auf diesen russischen Amerikanismus: „Klop“, zu deutsch „Die Wanze“. Der erste Teil spielt in der Gegenwart, mit geschlossenen Läden und wilden Straßenhändlern, mit Komsomolzen-Wirtschaft und abschließend mit der Hochzeit des Helden. „Die Hochzeit ist eröffnet,“ mit dieser in der politischen Versammlung gelernten Phrase begrüßt der Bräutigam selbst die Festgesellschaft, und das ist die einzige feierliche Rede. Um so mehr wird gegessen und getrunken, und die Freudenfeier endet in einer allgemeinen Betrunkenheit und liebevollen Schlägerei. Der zweite Teil des Stückes aber spielt fünfzig Jahre später. Und alles ist verändert. Alles ist mechanisiert, rationalisiert. Und so auch die Menschen. Sauber wie aus dem Ei gepellt, gemessen in jeder Bewegung, alle Triebe abgekühlt und völlig blutleer, so schart sich ein studentisches Auditorium um einen ebensolchen Professor, der seinen Schülern in einem Käfig als eine aus der Vergangenheit konservierte Rarität den Helden des ersten Teiles vorführt mitsamt einer bei ihm gefundenen und ebenfalls konservierten Wanze: Klopus communis und homo vulgaris. Aus dem Käfig herausgelassen, tritt dieser ganz gemeine Mensch, saftig und dreckig wie vorher in seinem Erdenwallen und höchlich gelangweilt von seiner neuen, seinen Umgebung, an die Rampe, entdeckt das Publikum und ruft glückselig: „Aber da seid ihr ja alle, ihr seid ja alle genau so wie ich, laßt mich doch zu euch!“ Aber bereitstehende Wächter, ebenso elegant, sauber und tiptop wie der ganze Kreis, springen hinzu und zwingen ihn wieder in den Käfig hinein, wo er nun mürrisch wie ein Orang-Utan im Zoologischen Garten sich hinstreckt: der Amerikanismus hat gesiegt.

          Erziehung zum Maschinen-Zeitalter.

          Der Amerikanismus soll hier jetzt tatsächlich siegen. In diesem Lande, über dem sich zu Tausenden die goldenen und grünen Kuppeln der alten orthodoxen Kirchen erheben, in dem das Volk seine schwermütigen Lieder singt und die Bauern in den Wintermonaten vielfach noch immer zwar nicht mehr Ikonen malen, aber doch in Holz und Geweben ihre schöne, alte Kleinkunst verfertigen; in diesem Lande, in dem so viel alte Barbarei sich mit so viel alter Liebe und altem Verständnis für die Schönheit und für den Geist in jeglicher Form seltsam mischt, soll jetzt fast über Nacht etwas ganz Neues gemacht werden: der rationalisierte, rational denkende, rationell wirtschaftlich handelnde Mensch an der Maschine. 

          Ob es gelingen wird? Noch klaffen die Widersprüche. Selbst an leitenden Stellen (nicht allerdings bei den obersten Spitzen der Verwaltung) begegnet der eilige Reisende aus dem Westen noch sehr oft einem Mangel an Verständnis für den Wert der Zeit, der ihn zur Verzweiflung treiben kann. Sitzt man in einem Büro, so hat man schon nach einer Viertelstunde statt des einen Menschen, den man aufsuchte, ihrer vier, fünf, sechs um sich herum, die zuhören und mitreden, als hätten sie gar nichts zu tun; und geht man durch einen Betrieb, so schließt sich bei jeder Abteilung ein neuer Führer an, bis man am Schluß eine ganze Eskorte bei sich sieht.

          Bei den Arbeitern aber ist das Problem noch viel ernster. Die beunruhigendste Frage der russischen Industrie, auch öffentlich immer wieder erörtert, ist heute das Sinken der Disziplin in den Betrieben. Unzufriedenheit in der Arbeiterschaft über die Schwierigkeiten der Lebenshaltung, über die hohen Kosten und die Knappheit der in sehr großer Zahl streng rationierten Lebensmittel, Kleidungsstücke und sonstigen Bedarfsartikel spielt dabei sicherlich eine Rolle. Desgleichen ein z. B. durch den Schachty-Prozeß wieder bedrohlich genährtes Mißtrauen unter den Arbeitern gegen die Ingenieure, die Spezialisten. Aber noch eine dritte Erklärung hat man mir immer wieder gegeben: den Hinweis auf die Tatsache, daß ein sehr großer Teil der jetzt mit so gewaltsamer Eile vermehrten Industriearbeiterschaft frisch aus dem Dorfe kommt, nicht also durch Generationen geschult, wie in alten Industrieländern, nicht gewohnt an die Disziplin im Betriebe, an die exakte Arbeit an der Maschine, an die strenge Regelmäßigkeit und Pünktlichkeit des Dienstes, der umso strenger und regelmäßiger sein muß, weil die Arbeitszeit kurz ist, acht und neuerdings vielfach nur sieben Stunden in der Fabrik und sogar nur 6 1/2 Stunden in den Büros.

          Trotzdem: die Maschinisierung der Arbeit und die dafür notwendige Rationalisierung des Menschen, in anderen Ländern das Ergebnis einer jahrzehntelangen allmählichen Entwicklung, soll hier in kürzester Frist durchgeführt werden. „Wir können doch nicht ewig bei dieser orientalischen Lebenshaltung bleiben, die unser Volk bis zum Kriege hatte. Wo sollten wir dann hin mit unserer riesigen jährlichen Volkszunahme?“, sagte mir ein Gelehrter. Und ein anderer charakterisierte mir das Problem so: „Sie konnten die Schroffheit der Gegensätze auch schon früher in Rußland finden. Immer war es so, daß die große Masse unseres Volkes im 16. Jahrhundert und die dünne Oberschicht unserer Intelligenz im 21. Jahrhundert lebte. Der eine Teil weit hinter der Zeit der übrigen Welt und der andere ihr schon ein gut Stück voraus. Diese Unterschiede einander anzunähern, ist jetzt das Ziel.“

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