Bildungsverfall : Das Gymnasium – Ruine einer Utopie?
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Erziehung für den Staatsdienst: Der brandenburgische Kurfürst Joachim Friedrich gründete 1607 das Joachimthalsche Gymnasium Bild: www.bridgemanart.com
Früher hieß der Lehrer mal Pauker. Heute wird großzügig auf beharrliches Üben verzichtet, vom Auswendiglernen ganz zu schweigen: Wie der Erfolg eine Schulform paralysiert. Ein Gastbeitrag.
Das Gymnasium hat zwei Feinde: seine Anhänger und diejenigen, die unverdrossen seine Abschaffung zugunsten der Gesamtschule fordern. Letztere treibt eine irgendwie linke Ideologie, während die Freunde des Gymnasiums so viele Kinder hineinpumpen, dass sich die Qualitätsfrage des gymnasialen Abschlusses mit zunehmender Schärfe stellt.
Rund 50 Prozent der Großstadtkinder lernen gymnasial, während 30 Prozent der Ingenieurstudenten an mathematischen Elementaranforderungen scheitern. Universitäten bieten Nachhilfe in Grammatik und Schreibtechnik an, derweil schafft NRW Latein als Studienvoraussetzung für gymnasiale Sprachenlehrer ab.
Ein Frankfurter Didaktiker wies nach, dass Neuntklässler Abituraufgaben lösen können, weil die Lösung bereits in der Aufgabenformulierung steckt, während die Schulpraxis mit beängstigender Geschwindigkeit das Lernen und Behalten von Dingen dem Erwerb von „Kompetenzen“ opfert. Eine „Kompetenz“ ist es sicherlich, das Ergebnis der Aufgabe abzulauschen. Nur, wem nützt sie?
Pauken von Vokabeln – megaout
Wie das in der Schulpraxis aussieht, mögen drei Szenen beschreiben: Die erste spielt im Englisch-Leistungskurs einer Klasse 12. Die Schüler beschäftigen sich mit einem Bericht zum Thema „Fracking“ - und in einsprachigen und zweisprachigen Wörterbüchern suchen sie nach „to encourage“, „to doubt“ oder „irresistible“. Avancierte nutzen Tablets und konsultieren „Leo“, ein internetbasiertes Wörterbuch. Der Unterricht besteht aus Vokabelrecherche und dem Vergleich der jeweiligen Fundstücke.
Man kommt nicht dazu, die 25 Textzeilen inhaltlich zu erfassen, zu paraphrasieren oder gar zu diskutieren. Die Lehrerin ist sehr zufrieden, wie „versatile“ die Schüler die neuen Medien nutzen, Wortbedeutungen „hinterfragen“ und nicht gezwungen sind, sich mit zufällig gewussten Wörtern zufriedenzugeben. Stures Pauken von Vokabeln und Patterns sei „megaout“, erklärt sie; es gehe um die Effizienz der textbezogenen Datenbeschaffung.
13 Jahre – Rechtschreibung mangelhaft
Solcherart qualifizierte Schüler müssen in vielen Bachelor-Studiengängen auf Englisch kommunizieren. Was deutschen Professoren möglicherweise nicht auffällt, entsetzt anglophone Dozenten: „Die Studenten reden und schreiben durchweg in einem extrem restringierten Code, stützen sich auf einen Minimalwortschatz und verstehen flüssig gesprochenes Englisch nicht. Wissenschaft lässt sich auf dieser Basis nicht betreiben“, lautet das Statement eines Professors, der Lehramtsstudenten für gymnasiales Englisch ausbilden muss.
Die zweite Szene bestimmt das Schulleben des 13 Jahre alten Felix, der „keinen Bock auf Rechtschreibung“ hat. Er ist überzeugt, dass diese weder für die Schule noch fürs spätere Leben von Bedeutung sei. Zwar sind die Diktate mangelhaft, aber das kann er ausgleichen durch mündliche Leistungen. Die Bombe platzt, als er stolz eine Biologiearbeit vorzeigt und eine wahrhaft rechtschreibfreie „Eins“ bejubelt.
Die Lehrerin hat sechs Fehler angestrichen, 22 weitere ignoriert und in ihren Aufgaben acht eigene fabriziert. Die Eltern toben, holen sich fachkundigen Rat, studieren alle Hefte ihres Sprösslings und finden heraus, dass - außer den Sprachenlehrern in Klassenarbeiten - keine Lehrkraft sich in drei Jahren um die Rechtschreibung gekümmert hatte.
Kann Schule nicht auch einfach Freude machen?
Die Eltern suchen Unterstützung, wollen den Elternbeirat mobilisieren, die Lehrer zur Beachtung ihrer Dienstpflichten bewegen. Die anderen Eltern zucken zurück, fürchten für ihre Kinder und empfehlen individuelle Nachhilfe. Davon lebt inzwischen eine riesige Industrie von zuweilen sehr dubioser Qualität. Felix’ Lehrer arbeiten offenkundig nicht für das Wohl der ihnen anvertrauten Kinder. Sie haben keine Idee, was ihres Amtes ist und welche Bildungs- und Wissensziele sie verfolgen sollen. Die Gleichgültigkeit der Schule hinterlässt dann ihre Spuren in der Familie, treibt Kinder und Eltern in einen Konflikt, der eigentlich Sache der Schule ist.
Die dritte Szene kommt auf dem hohen Pathos akademischer Rede daher. Zum Jubiläum eines Gymnasiums spricht ein berühmter Musikdidaktiker über die Wirkungen der Schulmusik: Sie mache sozialer, stärke die Interaktions- und Kommunikationsfähigkeit und verknüpfe optimal die Hirnsynapsen. Das habe die moderne Neurowissenschaft bewiesen. Dass Musik Freude bringt und ihren Wert in sich selbst hat, sagt er nicht. Auch Mathematiker oder die - wahrhaft zeitgeistgeplagten - Lateiner vertreten ihr Fach weitgehend defensiv und weisen auf die Sekundärwirkungen hin, die aus der Beschäftigung mit seinen Gegenständen erwüchsen.
Wissen um des Wissens willen – kann entrümpelt werden
„Unpregnant of their cause“ beschrieb ein Frankfurter Pädagoge schon vor Jahren die Lehrkräfte, die den Inhalten ihrer Lehre selbst nicht mehr trauen und unablässig nach externer Rechtfertigung suchen. Diese didaktische Irritation teilt sich natürlich auch den Schülern mit und ist Antrieb der kompetenzbasierten Pädagogik.
Die „Entrümpelung“ der Lehrpläne wurde zum Mantra der G8-Befürworter; doch haben sie nie konkret gesagt, welche Inhalte denn „Gerümpel“ seien. Verächtlicher kann man Wissen und Können nicht machen. „Abfragbares Wissen“ ist weithin zum Schmähwort geworden - als ob es ein Wissen gäbe, das sich der Kommunikation entzöge.
Schon immer haben Schüler wissen wollen: „Wozu brauche ich das?“ - das Gymnasium heute hat keine Antwort darauf. Es hat - im erstaunlichen Kontrast zur Musik- und Sportausbildung - den Blick auf beharrliches Üben ebenso verloren wie die Wertschätzung dessen, was Kinder auswendig lernen können und was ihnen unverlierbar mitgegeben werden sollte. Fehlte der Paukschule früherer Zeiten bei allen sachlichen Anforderungen ein ideelles Ziel, so sind ihr heute auch die Inhalte entglitten.
„Es ist ein hartes Gesetz, denn es belastet jedes Kind von vornherein“
Dass dieser „Paukschule“ indessen nicht die Zukunft gehören konnte, zeigt die Festschrift eines hessischen Gymnasiums von 1957. Sie definiert - flankiert vom Bildungsplan des Kultusministeriums - als wesentliches Schulziel die „Auslese“. Alle Fächer sollten durch ihren Beitrag zum kontinuierlichen Sitzenbleiben dazu beitragen, dass von zehn Prozent aller Kinder eines Jahrgangs, die ins Gymnasium eintreten, nur noch ein Drittel die Reifeprüfung besteht!
Das las sich so: „Unter diesem Gesetz der Auslese stehen nun unsere Kinder. Es ist ein hartes Gesetz, denn es belastet jedes Kind von vornherein mit der kategorischen Forderung „du musst“. . . Die Gymnasien müssen . . . auslesen . . . alle diejenigen Schüler ausscheiden, die nicht imstande sind, den Anforderungen an Wissen und Denken, an Wille und Fleiß standzuhalten.“ Man kam nicht auf den Gedanken, dass der Drei-Prozent-Fanatismus eine Unzahl junger Menschen um Bildungschancen brachte oder möglicherweise ungeeignet war, die tatsächlich Besten irrtumsfrei herauszufinden.
Das Gymnasium wird in der Literatur gegeißelt
Welche ideellen Säulen hatte das Gymnasium der Nachkriegszeit, hat das von heute? Wenn man ihm die prekäre Entnazifizierung gutwillig abnimmt, bleibt die humanistische Tradition des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Im Ernst? 1914 haben die Gymnasien ihre Schüler in den Weltkrieg gelockt, danach auf breiter Front der demokratischen Ordnung die Zustimmung verweigert und übereifrig dem „3. Reich“ gedient.
Thomas und Heinrich Mann, Hesse, Musil, Torberg, Werfel, Remarque, Koeppen, Andersch und viele andere haben ihre Schule der Unmenschlichkeit geziehen. Gibt es einen ernstzunehmenden deutschen Autor, der „dem Gymnasium“ ein anerkennendes Denkmal gesetzt hätte? Alfred Anderschs Frage „Schützt denn Humanismus vor gar nichts?“ peinigt zutiefst, weil irgendwo im emotionalen Hintergrund die Sehnsucht nach einer würdigen gymnasialen Tradition brennt, die in der „Feuerzangenbowle“ so anheimelnd bedient wird.
Schule wird zum Nebenjob
Das Schachern um G8/G9 als Reflex auf diffuse OECD-Statements und das Drängen der Wirtschaft hat es an den Tag gebracht: Das Gymnasium als Ort zielstrebigen Lehrens und Lernens mit dem Ziel einer breiten, fundierten Bildung im Dienst eines - stets aufs Neue zu klärenden - humanistischen Ideals existiert nicht. Das Gymnasium soll vielmehr pflegeleicht und stressfrei sein; das Lernen soll „Spaß“ machen und keine Hindernisse bereithalten, deren Überwindung Mühe und Schweiß kostet.
Die Abiturnoten werden immer besser, ungeachtet der Tatsache, dass ungezählte Schüler, teils mit offiziellen 450-Euro-Jobs, die Szenegastronomie und die Textilbranche am Laufen halten. Schule verkommt zur Zweitbeschäftigung. Dass die Lasten von G8 den jüngsten Gymnasialschülern und nicht der Oberstufe aufgebürdet werden, zeigt nebenbei, wie wenig Politik und Schule das Kindeswohl im Auge haben.
„Aufs Gymnasium gehören die geeigneten Kinder - und die eigenen.“
Das Gymnasium hat die Wurzeln des kalten Lernethos der Nachkriegszeit zu Recht gekappt. Es ist ihm aber nicht gelungen, das Ziel, möglichst viele Bildungschancen zu eröffnen, von einer rein quantitativen Betrachtung frei zu halten. Dass alle Kinder alle Chancen bekommen sollen, muss in einer demokratischen Gesellschaft selbstverständlich sein und legt der Schule zwingend auf, benachteiligte Kinder zu fördern.
Wenn die Schule die Förderung aber mit inhaltlicher Verdünnung verwechselt, schadet sie allen Schülern, auch wenn diese das erst nach der Schulzeit zu spüren bekommen. Ein Schulleiter traf den Nagel auf den Kopf: „Aufs Gymnasium gehören die geeigneten Kinder - und die eigenen.“ Den eigenen winkt weitere Entlastung: Die Lehrerbildung arbeitet an der Kompetenzkompetenz.
Der Verfasser Klaus Ruß war Gymnasiallehrer und Gymnasiallehrerausbilder und ist als pädagogischer Berater tätig.