
Kommentar : Die weiße Fahne
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Ein Staat darf seine Grenzen nicht aufgeben. Ohne sie kann er seine Aufgaben nicht erfüllen. Seine Bürger brauchen sie auch. Bild: plainpicture/Ingrid Michel
Angela Merkel hat Einheimischen wie Migranten den Glauben genommen, dass die Grenzen Deutschlands noch eine Bedeutung haben. Einen verhängnisvolleren Fehler hätte sie kaum begehen können.
Im Ausland heißt es, die Deutschen hätten ihre Grenzen aufgegeben. Da kennt das Ausland die Deutschen aber schlecht. In jedem Amtsgericht würde es eines Besseren belehrt. Dort wird wegen vielem gestritten, um kaum etwas aber so erbittert wie um Grenzverletzungen, tatsächliche oder auch nur gefühlte. Wegen überhängender Äste, auf der falschen Seite des Zaunes herabfallender Äpfel und Rauchschwaden vom Grill, die sich partout nicht an die Vorgaben der Katasterämter halten, gehen sich selbst ansonsten friedliche Zeitgenossen an die Gurgel, nicht nur im übertragenen Sinne. My home is my castle, sagt der Engländer. Der Deutsche nickt und ergänzt: Mein Zaun ist meine Burgmauer.
Zäune verschaffen den Leuten gute Gefühle, sonst gäbe es nicht so viele, nicht nur in Deutschland: Jägerzäune, Lattenzäune, Maschendrahtzäune, Staketenzäune, Stacheldrahtzäune. Mit ihnen werden Grundstücke eingefriedet. Schon dieses Wort verrät, was Zaunbauer sich von ihren Zäunen, Hecken und Palisaden erhoffen: ein bisschen Frieden und Ruhe vor dem Chaos und den Gefahren der Welt. Zäune schaffen Sicherheit oder wenigstens ein Gefühl davon. Zäune zeigen, wo die Grenzen verlaufen: zwischen Mein und Dein, zwischen unseren Regeln und euren, zwischen privat und öffentlich. Zäune trennen nicht nur, sie stehen auch für Zusammengehörigkeit. Sie zeigen an, wer sich als Gemeinschaft begreift. Sie sind Symbole einer von allen akzeptierten Ordnung.
Menschen brauchen Grenzen und Abgrenzungen. Um die Welt verstehen und ihre Unordnung ertragen zu können. Zur sozialen und politischen Organisation. Zur Selbstvergewisserung. In jeder Schrebergartenkolonie, in jeder Vorstadt, in jedem Neubaugebiet kann man sehen, dass die Deutschen in Grenzfragen Hegelianer sind: Etwas ist nur in seiner Grenze und durch seine Grenze das, was es ist. Ihre Prozesshanselei hindert die Deutschen nicht daran, einer ordentlichen Grenze – einer mit einem Zaun – friedensstiftende Wirkungen zuzuschreiben. Auch mit dieser Ansicht sind sie nicht ganz allein, wie ein weiteres englisches Sprichwort beweist: Good fences make good neighbours.
Mauern in Deutschland als Mittel der Politik delegitimiert
In der Politik aber gilt das nicht (mehr). Dort machen Zäune inzwischen böses Blut. Im Verhältnis von Staaten wie Deutschland und Ungarn, aber auch in den innenpolitischen Debatten. Deutschland wird von einem besonders schweren Grenzkonflikt erschüttert: zwischen den politischen Eliten und einem wachsenden Teil der Bevölkerung. Politiker aus ganz unterschiedlichen Parteien und bis hinauf in die Staatsspitze behaupten, Zäune lösten die durch den Flüchtlingsansturm aufgeworfenen Probleme nicht. „Ich bin überzeugt, dass man ein Land wie Deutschland nicht abriegeln kann, auch ein Zaun würde verzweifelte Menschen nicht abhalten“, sagte Bundeskanzlerin Merkel im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Sie glaubt wie viele andere deutsche Politiker nicht an die Macht einer Mauer: Im 21. Jahrhundert könne sich niemand mehr vom Rest der Welt und ihren Konflikten abkoppeln. Mauern sind in Deutschland als Mittel der Politik ähnlich delegitimiert wie militärische Gewalt. Dass die in der DDR groß gewordene Merkel nicht als neue Mauerbauerin in die Geschichte eingehen will, ist verständlich. Aber auch Westdeutsche schwingen diese Keule, weil sie sich so schön schwingen lässt. „Ich will nicht, dass wir in Deutschland wieder eine Mauer bauen“, sagt EU-Parlamentspräsident Martin Schulz.