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Frankreich und die Flüchtlinge : Kopfschütteln über Madame Merkel

„François Hollande ist Angela Merkel wie ein Schaf gefolgt“, sagt der Republikaner Eric Ciotti. Bild: dpa

Frankreich ist irritiert über Merkels Flüchtlingspolitik. Präsident Hollande befürchtet eine Eskalation des innereuropäischen Streits über die Flüchtlingsfrage. Le Pen höhnt, Frankreich sei zum „Fußabtreter“ der Bundeskanzlerin geworden.

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          Frankreich fühlt sich von Angela Merkel düpiert. Die regierenden Sozialisten ringen nach Worten, um die Volten der Bundeskanzlerin in der Flüchtlingspolitik zu kommentieren. Wie gelähmt reagierten sie auf die Nachricht, dass an der Grenze zum Elsass deutsche Polizisten die Übergänge kontrollieren. Was sagt der französische Innenminister dazu? Er schweigt bislang, aber lässt durchsickern, wie irritiert man sei. Das kurze Techtelmechtel der französischen Linken mit der Kanzlerin als „Schutzherrin der Flüchtlinge“ ist schon wieder passé. „Sehr beunruhigend“ findet der sozialistische Abgeordnete Benoît Hamon das deutsche Polizeiaufgebot an den Grenzen und überhaupt den unsteten Kurs. Der sozialistische Abgeordnete Malek Boutih, der Premierminister Manuel Valls nahesteht, spricht von einer Demütigung Frankreichs. „Frau Merkel ist die beste Verbündete von Frau Le Pen geworden“, sagt Boutih. Er spielt auch auf die Symbolkraft der deutschen Grenzposten an, die ein Teilstück der deutsch-französischen Grenze überwachen. Seit Jahren verlangt der rechtspopulistische Front National, die Grenzzäune wieder hochzuziehen. Dass nun ausgerechnet Berlin dieser Forderung (wenn auch nur vorübergehend) nachkommt, erklärt die Verstimmung bei den Sozialisten.

          Michaela Wiegel
          Politische Korrespondentin mit Sitz in Paris.

          Die Bundeskanzlerin habe einen enormen politischen Fehler begangen, als sie unilateral Flüchtlinge in den Schengen-Raum gelockt habe, kritisiert Boutih, der früher den Verband „SOS Rassismus“ leitete. Von einer gemeinsamen Verwaltung des Schengen-Raums, wie es angesichts der Krise geboten sei, habe sich Berlin verabschiedet. Die Entscheidung zur Rückkehr zu Grenzkontrollen habe die Bundesregierung ebenfalls „unilateral“ getroffen, bemängelt der Sozialist. Boutih spricht von einem „Wendepunkt im europäischen Einigungsprozess“. Merkels Politik beschwöre Krisen in fast allen europäischen Ländern und auch in Frankreich herauf, so der Sozialist.

          Selfie mit der Kanzlerin : Merkel begeistert Flüchtlinge

          Tatsächlich hat es sich die Opposition nicht nehmen lassen, Präsident François Hollande als treudummes Opfer einer kapriziösen Kanzlerin darzustellen. Hollande zauderte lange, sich dem Aufnahme-Elan der Kanzlerin anzuschließen. Deshalb stand er bei den Parteifreunden am Pranger, die ihm vorhielten, sich vor dem Front National zu ducken. Doch gerade als Hollande zu einer Willkommensgeste bereit war und für aufnahmewillige Kommunen am Wochenende 1000 Euro pro Flüchtling lockergemacht hatte, schreckte ihn die Kanzlerin mit ihren „vorübergehenden“ Grenzkontrollen auf. Hollande war darauf nicht vorbereitet.

          Im Elysée-Palast herrscht seither „dicke Luft“, wie die Zeitung „Le Figaro“ schrieb. Der Vorstoß von Innenminister Thomas de Maizière, renitente EU-Länder finanziell zu bestrafen, weckt weiteren Argwohn. Auch wenn sich die Kanzlerin davon distanzierte, befürchtet Hollande eine Eskalation des innereuropäischen Streits über die Flüchtlingsfrage. Offiziell unterstützt Paris das Verlangen der Bundeskanzlerin nach einem EU-Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs. Doch Berater im Elysée-Palast lassen durchblicken, dass das Vertrauen in die Strategie der Bundeskanzlerin begrenzt ist. Marine Le Pen höhnte jetzt, Frankreich sei zum „Fußabtreter“ der Bundeskanzlerin geworden. Bei einem Treffen mit der rechtsextremen belgischen Partei Vlaams Belang bezeichnete sie Frau Merkel als „Kaiserin“, die ganz Europa ihre illegalen Einwanderer aufzwingen wolle. „Totale Verantwortungslosigkeit“ sei der Leitsatz der Kanzlerin.

          Nicolas Sarkozy sagte gönnerisch, Frau Merkel habe halt die richtige Inspiration aus dem Elysée-Palast gefehlt. „Mit einer Woche Verspätung hat sie dann doch das getan, was wir wollten“, sagte Sarkozy. Der Vorsitzende der Republikaner (vormals UMP) hat am Mittwoch bei einer Parteisitzung seine Vorschläge wiederholt. Er will die Schengen-Vereinbarung abwickeln und durch eine neue („Schengen II“) ersetzen, Sicherheitsverwahrungslager an den Außengrenzen der EU für Migranten einrichten und das Asylrecht einschränken. „Sofort“ sollen überall in der EU wieder Grenzkontrollen eingeführt werden. Sarkozy will die Parteimitglieder über seine Vorschläge abstimmen lassen.

          Sein früherer Berater, der Abgeordnete Henri Guaino, hielt der Bundeskanzlerin vor, sich seinerzeit dem französischen Projekt einer Mittelmeerunion widersetzt zu haben. Mit einer funktionierenden Mittelmeerunion wäre der EU das Flüchtlingsdrama erspart geblieben. Die Beschwerden aus Berlin über eine mangelnde Kooperation der EU-Partner hält Guaino für unangebracht. „Angela Merkel hat unilaterale Entscheidungen getroffen, unilaterale Ankündigungen gemacht, und jetzt beschwert sie sich über mangelnde Kooperation. Das ist ein starkes Stück“, sagte Guaino.

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          „François Hollande ist Angela Merkel wie ein Schaf gefolgt.“

          Selbst der Deutschlandkenner Bruno Le Maire (Republikaner) sparte nicht mit Kritik. Die Bundeskanzlerin habe „einen doppelten Fehler“ begangen, als sie zuerst die Arme zu weit geöffnet habe, um sie dann ohne Absprache mit den europäischen Partnerländern wieder zu schließen, sagte der frühere Europaminister. „Wir brauchen dringend einen gemeinsamen europäischen Ansatz“, forderte Le Maire. Der Abgeordnete Eric Ciotti (Republikaner) beschwerte sich: „François Hollande ist Angela Merkel wie ein Schaf gefolgt.“ Der Präsident sei nur noch ein Mitläufer der Kanzlerin. „Die Position Frankreichs in der Flüchtlingskrise ist unbekannt“, sagte Ciotti.

          In den französischen Medien, von denen Angela Merkel erst kürzlich als „Retterin der Ehre der EU“ gefeiert wurde, häufen sich jetzt hämische Kommentare. „Le Monde“ sagt das „Ende des deutschen Europas“ vorher. Der frühere Berlin-Korrespondent der Zeitung Arnaud Leparmentier bezeichnet die Bundeskanzlerin als „Neo-Bismarck“; es gelinge ihr nicht, „Gesinnungsethik und Verantwortungsethik miteinander zu versöhnen“. „Bei Angela Merkel waren wir in Sachen Krisenbewältigung mehr Seriosität und Besonnenheit gewöhnt“, mäkelte „Le Figaro“.

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