Flüchtlingskrise : Ablehnen ist einfacher als abschieben
- -Aktualisiert am
Sammelabschiebung in Baden-Württemberg, Archivbild Bild: dpa
Die Abschiebung von Asylsuchenden wird häufig durch das Fehlen von Ausweisdokumenten erschwert. Das stellt die Behörden vor zahlreiche Probleme. Bringen Laissez-passer-Papiere die Lösung?
Das Wort ist eines der Monster der Bürokratensprache. Es hat 27 Buchstaben, und man braucht ein paar Anläufe, bis es fehlerfrei und flüssig über die Lippen kommt. Passersatzpapierbeschaffung. Schaut man jedoch hinter die abschreckende Fassade, so stößt man in eine Wirklichkeit vor, die eines der zentralen Probleme im Umgang mit der großen Zahl von Flüchtlingen ist. In einer Studie aus dem April dieses Jahres kommen das Bundesinnenministerium, die Bundespolizei und zahlreiche Länder, zusammengeschlossen in der Arbeitsgruppe „Vollzugsdefizite“, zu dem Ergebnis, dass 73 Prozent aller nach Deutschland kommenden Asylsuchenden angegeben hätten, „ohne jegliche Identitätsdokumente zu sein“. Heißt: Die Menschen haben keinen Pass oder Ausweis, mit dessen Hilfe man schnell und belastbar feststellen könnte, wie sie heißen, wo sie herkommen, und damit auch, wohin man sie zurückschicken kann, falls sie keinen Aufenthaltstitel in Deutschland bekommen.
Die Welt der Passersatzpapierbeschaffung ist eine spannende, sehr politische. Denn selbst wenn die deutschen Behörden zu dem Schluss kommen, dass ein Asylsuchender nicht in Deutschland bleiben darf, sind ihnen in dem Moment die Hände gebunden, da dieser keine Papiere hat und sein mutmaßliches Herkunftsland sich weigert, ihm – möglichst schnell – neue auszustellen. Die Forderung nach Abschiebung oder Rückführung, wie das freundlichere Wort heißt, stößt dann an rechtliche Grenzen. Ein demokratischer Rechtsstaat wie Deutschland kann einen Menschen ohne Papiere schließlich nicht nachts mit dem Bus über eine beliebige Grenze in ein beliebiges Land karren und dort aussetzen, auch wenn das in der Gegenrichtung oft genug passiert. Irgendwie müssen also Papiere beschafft werden. Und zwar solche, die der Herkunftsstaat des abgewiesenen Flüchtlings akzeptiert. Die Kooperationsbereitschaft dieser Staaten ist mithin von höchster Bedeutung.
Schwierige Suche nach der wahren Identität
Die Sache wird dadurch erschwert, dass die Rückführung abgelehnter Asylbewerber Angelegenheit der Bundesländer ist. Die haben sich um die Ersatzpapiere zu kümmern. Landesbehörden müssen sich also an ein Konsulat oder die Botschaft eines Landes wenden, um mit diesem häufig zunächst die Identität eines Flüchtlings zu klären und anschließend dafür zu sorgen, dass dieser neue Papiere bekommt. Hilfreich ist, wenn der Flüchtling kooperiert. Hat er seine Papiere tatsächlich verloren oder wurden sie ihm gestohlen, spricht manches dafür, dass er das tut. Hat er sie absichtlich nicht bei sich, hat sie vernichtet oder an anderer Stelle deponiert, könnte das gegen seine Kooperationsbereitschaft sprechen. In dem bereits zitierten Bericht der Arbeitsgruppe Vollzugsdefizite heißt es zum Phänomen der fehlenden Papiere: „Vielfach handelt es sich dabei um eine zielgerichtete Verschleierung.“ Da die Asylbewerber aus Syrien und den sicheren Herkunftsstaaten des Balkans „in der Regel und damit überproportional“ Dokumente bei sich hätten, ergebe sich für alle übrigen Staatsangehörigen eine Quote von 80 Prozent, „die angeblich ohne Identitätsnachweise eingereist sind“.
Als Nächstes kommt es auf die Bereitschaft der mutmaßlichen Herkunftsländer zur Zusammenarbeit an. Zwar haben Deutschland oder die Europäische Union mit einigen von ihnen Rückübernahmeabkommen ausgehandelt, oder das soll noch geschehen. Doch wird in Berlin deren Bedeutung nicht überschätzt. Vielmehr verweist man auf die ohnehin bestehende völkerrechtliche Verpflichtung eines Staates, seine Bürger zurückzunehmen.
Wenn es denn Bürger dieses Staates sind und sich das nachweisen lässt. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe schreibt in ihrem Bericht, wie schwierig das ist. Die in Rede stehenden Länder ließen sich „zumeist“ nur durch „Sachbeweise oder zumindest stimmige und glaubhafte Angaben zur Person“ überzeugen. Ohne Sachbeweise sei Klarheit nur mit Aussagen der Person selbst zu bekommen. Dazu müsse diese „qualifiziert und intensiv“ mit Hilfe von Dolmetschern befragt werden. Das sei aber – so der Bericht aus dem April – „in den meisten Clearingstellen schon aus Kapazitätsgründen nur für eine verhältnismäßig geringe Zahl von Fällen oder aber oft auch gar nicht“ möglich.
Illegale Migranten stützen Bruttosozialprodukt in Heimatländern
Die Bundesregierung kennt diese Nöte. Als in der vorigen Wochen die Vorsitzenden der drei Koalitionsparteien zusammentrafen und Beschlüsse zur Flüchtlingspolitik fassten, kündigten sie auch hier Verbesserungen an. So will der Bund in Berlin oder Potsdam neben den bestehenden Clearingstellen „eine neue Organisationseinheit“ aufbauen, teilten die CDU-Vorsitzende Angela Merkel, der CSU-Chef Horst Seehofer und der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel mit. Aufgabe dieser Stelle wird sein, in ständigem Kontakt mit den Botschaften der Herkunftsländer zu stehen. Das ist einmal wichtig, um die Länder zu entlasten. Zum anderen hat der Bund aber auch andere Möglichkeiten, Druck auf die Herkunftsländer auszuüben. Dass das erforderlich ist, darüber macht man sich in Berlin keine Illusionen. Allerdings werden dabei politische Rücksichten genommen. Tunesien sperrt sich zwar sehr gegen die Rücknahme abgelehnter Asylbewerber aus Deutschland. Allerdings will Berlin nicht zu viel Druck ausüben, weil man in dem nordafrikanischen Land das mehr oder minder einzige sieht, in dem der arabische Frühling einen einigermaßen guten Verlauf genommen hat.
Schon jetzt, wo die neue Einrichtung in Berlin oder Potsdam noch nicht besteht, unterstützt der Bund die Länder bei ihrer schwierigen Aufgabe. So hilft die Bundespolizei bei der Beschaffung von Papieren für Migranten aus Westafrika. Gerade die westafrikanischen Länder und ihre Auswanderer sind nicht leicht zu handhaben. Von hier kommen viele alleinreisende Männer, überdurchschnittlich oft ohne Papiere. Sie kommen, um Geld in Europa zu verdienen. Zum Teil ist die Summe aller Überweisungen des in Deutschland, Frankreich oder anderswo verdienten Geldes in die Heimat ein erheblicher Bestandteil des Bruttosozialprodukts eines afrikanischen Landes. Angeblich gibt es Fälle, in denen die Summe sich auf zwanzig Prozent beläuft.
Bundesregierung will afrikanische Staaten unterstützen
Auf ihrem Gipfel in Malta haben die EU-Staaten und die afrikanischen Länder daher auch beschlossen, die Überweisungsgebühren für solche Transfers zu senken. Zudem will die EU den afrikanischen Staaten mit weiteren Zahlungen unter die Arme zu greifen. Schließlich sollen Aufnahmeeinrichtungen und Migrationszentren entlang der afrikanischen Fluchtrouten Anlaufstelle für Flüchtlinge sein. Im Idealfall sollen diese von der lebensgefährlichen Flucht abgehalten und überzeugt werden, dass sie besser in die Heimat zurückkehren, sofern sie dort nicht verfolgt oder bedroht werden. Allerdings wird es dauern, bis diese Anlaufstellen Wirkung entfalten können. Das in den Grundstrukturen bereits bestehende Zentrum in der Stadt Agadez im zentralafrikanischen Niger ist nach Auskunft des Bundesinnenministeriums erst Mitte des nächsten Jahres einsatzbereit.
Die Beschaffung von Ersatzpapieren für Asylbewerber aus Westafrika ist für die deutschen Behörden besonders schwierig. Aus den genannten Gründen wollen weder die in Deutschland oft Geld verdienenden Menschen ausreisen, noch wünschen ihre Heimatstaaten, dass sie zurückkommen. Ist geklärt, woher ein Flüchtling kommt, oder glauben die deutschen Behörden, es geklärt zu haben, muss bisher ein Termin beantragt werden bei einer Auslandsvertretung dieses Landes in Deutschland, einem Konsulat oder der Botschaft. Oft wird der zur Ausreise Verpflichtete zu diesem Termin begleitet. Im Idealfall wird die Identität bestätigt, und die Diplomaten des Herkunftsstaates helfen bei der Erstellung der Papiere. Wenn es schlecht läuft, wird festgestellt, dass die ausreisepflichtige Person aus einem anderen Land kommt. Dann muss mit dessen Auslandsvertretung ein Termin gemacht werden. Und so weiter. In der Liste der abzuschiebenden Personen, der sogenannten Ausreisepflichtigen ohne Duldung, stehen die westafrikanischen Staaten zwar nicht ganz oben. Aber einige tausend Fälle kommen doch zusammen: 658 aus Nigeria, 410 aus Somalia, 693 aus Algerien, 840 aus Marokko, 512 aus Ghana und 111 aus Gambia. Das ist der Stand von Ende September, weiter reicht die Statistik noch nicht.
Zahl der Afghanen nimmt stark zu
Fachleute sagen, dass es, auch wenn die Nationalität bestätigt wird, vier bis acht Wochen dauern kann, bis Passersatzpapiere ausgestellt sind – unabhängig vom Herkunftsland. Wenn erst mehrere Botschaften abgeklappert werden müssen, kann man sich vorstellen, dass es leicht auch länger währt. Das verlängert den Aufenthalt von Migranten in Deutschland, die dort nicht bleiben dürfen. Derzeit sind das insgesamt immerhin knapp 200.000. Etwa 150.000 von ihnen haben eine Duldung, so dass aber doch mehr als 50.000 das Land verlassen müssten.
Fast 900 von ihnen kommen aus Afghanistan. Eigentlich sind annähernd 7000 Afghanen ausreisepflichtig, aber 6000 haben eine Duldung. Die Anerkennungsquote von Asylbewerbern aus dem Land am Hindukusch liegt bei weniger als 50 Prozent. Und die 900 - sind die auf dem Heimweg? Noch nicht. In diesem Jahr wurden erst sieben Afghanen nach Hause zurückgeflogen. Praktisch gibt es also keine Abschiebung dorthin. Bundesinnenminister Thomas de Maizière hatte kürzlich angekündigt, sich für eine stärkere Rückführung von Afghanen einzusetzen, doch ob es dazu, ist noch offen. Und da die Zahl der aus Afghanistan kommenden Flüchtlinge rapide zunimmt und sie mittlerweile nach den Syrern die zweitgrößte Gruppe bilden, rechnet man in Berlin damit, dass die Größenordnung der Ausreisepflichtigen schon bald fünfstellig sein wird.
Herkunftsländer müssen Laissez-passer-Papiere anerkennen
Gibt es denn gar kein Mittel, um die Verzögerung von Abschiebungen durch fehlende Papiere zu verringern? Es gibt eines, dessen Name viel schöner als das sperrige Wort Passersatzpapier ist. Es ist das Laissez-passer-Dokument der Europäischen Union. Ins Deutsche übersetzt heißt das: Bitte durchlassen! Anders als der wohlklingende französische Begriff zunächst glauben macht, handelt es sich nicht um eine Urkunde auf Büttenpapier, sondern um ein simples DIN-A4-Blatt mit einem Foto und den sogenannten Personalkerndaten, also den nötigsten Angaben zu demjenigen, der mit dem Papier ausgestattet wurde. Die deutschen Behörden können es im Handumdrehen herstellen. Voraussetzung ist, dass diese Kerndaten bekannt sind. Ein zur Ausreise verpflichteter abgelehnter Asylbewerber kann mit dem Papier Deutschland verlassen. Alles ganz schnell und unbürokratisch.
Des Rätsels Lösung? Nein. Kein Land der Erde ist gezwungen, jemanden mit einem solchen Dokument einreisen zu lassen. Das Laissez-passer-Verfahren funktioniert also nur dann, wenn ein Herkunftsland sich darauf einlässt. Sowohl mit afrikanischen Ländern als auch mit Afghanistan will Berlin darüber verhandeln, ob man sich auf dieses Vorgehen einigen kann. Keine leichte Angelegenheit. Einen großen Erfolg kann die Bundesregierung aber schon mal verbuchen. Er findet sich auch in der Vereinbarung der drei Parteivorsitzenden vom vorigen Donnerstag. Alle sechs Staaten des westlichen Balkans, die mittlerweile zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt wurden, haben sich bereit erklärt, Laissez-passer-Papiere anzuerkennen. Vier dieser Länder – Serbien, Kosovo, Mazedonien und Albanien – stehen auf den vordersten Plätzen der Abschiebeliste mit mehr als 15.000 Ausreisepflichtigen. Ohne Duldung.