Als Helfer im Erstaufnahmelager
Von TOBIAS BANGE2. Dezember 2015. Die Commerzbank stellt ihre Mitarbeiter für zwei Tage frei, um ehrenamtlich als Flüchtlingshelfer zu arbeiten. Erfahrungsbericht als Helfer im Erstaufnahmelager für Flüchtlinge in Berlin.
Im Rahmen dieses Programms habe ich (einschließlich eigenen Urlaubs und an den Abenden) mehrere Tage bei der Initiative „Moabit hilft“ in der Erstaufnahmeeinrichtung des Landesamts für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) gearbeitet.
Vor dem LaGeSo Hunderte Menschen sitzen und liegen auf der Turmstrasse vor dem LaGeSo, derzeit noch eine der Erstaufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge. Die Menschen sind in Decken gewickelt, einige besitzen einen Schlafsack, manche haben nur einen Karton unter sich. Unter den Wartenden sind viele Familien mit ihren Kindern. Die Kinder frieren, und mit jedem Tag wird es kälter. Abends verteilen wir Wasser in Bechern. Es bildet sich sofort eine lange Schlange und die Menschen freuen sich. Die Becher haben wir von der Heilsarmee bekommen, die hier von einem Wagen aus Essen verteilt. Bislang hielt ich die Heilsarmee für einen komischen Trupp „alter Omas“, die mit blauen Uniformen Lieder singen. Diese hier waren jedenfalls anders: trendige junge Berliner „Hipster“ mit viel guter Laune und großem Engagement.
© DPA Wer am frühen Morgen zuerst in der Schlange steht, bekommt vielleicht eine Nummer für die Registrierung.
Das LaGeSo Das LaGeSo ist die Erstaufnahmeeinrichtung im Berliner Stadtteil Moabit, hier ist das Landesamt für Gesundheit und Soziales untergebracht. Es handelt sich um ein weiträumiges ehemaliges Krankenhausgelände mit unzähligen Backsteinbauten. Tausende Menschen lassen sich hier täglich registrieren. Das dauert manchmal wochenlang. Wer am frühen Morgen zuerst in der Schlange steht, hat vielleicht die Möglichkeit, eine Nummer zu bekommen. Erst mit der kann man sich registrieren lassen. Für die Registrierung müssen die Flüchtlinge dann ein zweites Mal anstehen. Das LaGeSo war wochenlang die erste und in Berlin die einzige Erstanlaufstelle für Flüchtlinge. Die Warteschlange schiebt und presst. Es wird gehustet und geschrien. Und nur langsam geht es voran in diesem winkligen Gänge-Labyrinth aus eng gestellten Absperrgittern. Wer die Schlange verlässt, hat Pech gehabt und muss sich wieder hinten anstellen. Abends müssen die Menschen wieder vom Gelände verschwinden und es am nächsten Tag wieder versuchen. Zwar wird jedem ankommenden Flüchtling ein Schlafplatz zugewiesen, doch einige Menschen ziehen es vor, hier direkt zu warten, um am frühen Morgen die ersten zu sein.
© Matthias Lüdecke Für die Registrierung müssen die Flüchtlinge ein weiteres Mal anstehen.
Dienstag: 21 Uhr Beim meinem zweiten Besuch bringe ich ein paar bei Penny gekaufte Lebensmittel mit, fünf Kilo Äpfel, Limonade – und Müllsäcke! Der viele Müll stört und die städtische Müllerverwaltung kommt nicht nach. Als ich meine Tüten hinstelle, kommt es fast zu tumultartigen Szenen. Einige Menschen überrennen mich buchstäblich. Ich brülle sie an, was dann auch wirkt. Zwei ältere Männer halten die Menge in Schach. Es wird ruhig. Ich beginne zu verteilen. Schon wieder ein Geschiebe, Gegrabsche und Gedrängel. Ein Schwarzer – vermutlich Eritreer oder Somalier – schaut mich mit großen lieben Augen an. Ich will ihm einen Apfel zustecken. Aber sofort versuchen die anderen, ihm den Apfel wegzunehmen. Der Arme muss sofort ein paar Schläge einstecken. Es kommen viele Berliner hierher, bringen ein paar Lebensmittel vorbei, Kleider können tagsüber auf dem Gelände abgegeben werden. Eine elegante Kenianerin, die seit 20 Jahren in Berlin lebt, verteilt Lebensmittel an die Schwarzen. Sie erzählte mir, dass die Schwarzen manchmal Prügel einstecken müssten, und es gebe einige Syrer, die sagen: „Merkel hat uns und nicht Euch eingeladen.“
© Matthias Lüdecke Gespräch mit einer Familie aus Pakistan. Im Hintergrund Paten der Familie, rechts die Dolmetscherin.
Mittwoch: 19 Uhr Nach der Arbeit unterhalte ich mich lange mit einer Familie aus Syrien. Zwei Stunden sitzen wir vor dem Camp. Die Familie hat sechs Kinder, der siebte Sohn kam bei einem Bombenanschlag durch Assads Truppen ums Leben. Die letzten 4 Jahre sind die Kinder nicht mehr zur Schule gegangen „Bombed“, sagt der Vater. 20 Jahre arbeitete er als Ingenieur einer syrischen Ölfirma. Jetzt wartet die Familie seit acht Tagen auf eine Registrierung hier in Berlin. Einer der Söhne hat eine Banane, die er von einem Helfer hat ergattern können. Zuerst fragt er mich, ob ich sie essen möchte. Der Vater hat eine Plastikschüssel voller Reis und fragt auch zunächst mich, ob ich denn etwas essen möchte. Ich bedanke mich und nehme ein Stück von der Banane. Als ich mich endlich verabschiede und allen die Hand drücken will, sagt die Frau zu mir: „I cannot give you the hand. I am a Muslim.“
„Moabit hilft“ Im Haus R hat sich die Initiative „Moabit hilft“ niedergelassen. Diese Gruppe von Freiwilligen aus Berlin engagiert sich bereits seit dem frühen Sommer hier. Es sind Studenten, Schüler, Rentner. Berufstätige Ärzte oder Krankenschwestern kommen täglich, es gibt Arbeitslose und pensionierte Lehrerinnen. Elegante Berliner Ehepaare bringen ihre fast neuen Kaschmirpullover, eine Frau, vermutlich selbst Hartz IV-Empfängerin, bringt ein paar Kekse vorbei. Die Helfer verteilen Klamotten, Schlafsäcke, Seife und Zahnbürste sowie Luftmatratzen. Jeder, der hier mithilft, wird gebraucht, und jeder hat viel zu tun. Ich melde mich über das Internet bei der Gruppe „Tee und Kaffee“ an. Morgens um 8 Uhr warten wir, bis die Baracke geöffnet wird. Acht Wasserkocher stehen bereit, doch nur einer darf benutzt werden, da ansonsten die Stromversorgung in Baracke R ausfällt. Lange Suche auf dem Gelände nach einem Elektriker. Der erzählt von 4000 Ampere und der Überlastung des Stromnetzes. Er kommt mit, hat eine Idee – mit einem zweiten Kabel geht er an das zweite Stromnetz. Ein zweiter Wasserkocher kann angeschlossen werden. 100 Prozent Steigerung der Kaffee- und Teeproduktion.
© Matthias Lüdecke Die Hilfe wird dankbar angenommen.
Die Arbeit der Freiwilligen von „Moabit hilft“ wird über eine Facebook-Gruppe organisiert. Auszüge daraus:
„Ich arbeite am neuen Döner in der Bremer Strasse. Wir wollen heute Abend ab 22 Uhr für die Flüchtlinge umsonst Döner verteilen. Ist es möglich, dass sie jemand zu uns führen kann. Kommen so auf 200-300 Portionen“ (Serdal)
„Hallo ich bin Natalia, Studentin der KLasse Neugebauer. Unsere Professorin hat Interesse, 4 Flüchtlinge in unsere KLasse aufzunehmen. Die Voraussetzungen sind Interesse an Kunst und Philosophie. Sprache ist kein Thema…..Wer Interesse hat oder jemand kennt bitte mir Bescheid sagen“ (Natalia)
„Hallo wir haben zwei Tüten voll Kinderklamotten (Größe 74-96). Wo können wir das hinbringen?“ (Rahel)
„Die Nachtschicht braucht dringend warme Decken und stilles Wasser. Es kommen weiterhin nachts Überweisungen aus anderen Städten, die wir ab 1 Uhr nicht mehr unterbringen können.“ (Daniela)
© Matthias Lüdecke Eine Sprache, die alle verstehen: Bilder.
Das Haus R ist eine Art Baracke, die wohl erst später, vermutlich in den 30er oder 40er Jahren, errichtet wurde. Hier trifft sich „Moabit hilft“, ein privat organisierter Verein, seit ein paar Monaten. Jeder, der mitmachen möchte, muss sich zunächst registrieren lassen. Dann wird die Arbeit verteilt. Klamotten in der Kleiderkammer sortieren. Rucksäcke verpacken. Isomatten aufschichten. Vor dem Absperrband stehen viele Männer, aber auch Mütter mit ihren Kindern. Die Kinder haben keine Strümpfe an, keine Schuhe, sie frieren. Die Helfer organisieren die Klamotten, geben Jacken aus und Pullover. Eine Frau von der Caritas informiert die Fragenden, was sie zu tun haben und wo sie warten können. Wir verteilen Kaffee und Tee, geben Kleider aus, ordnen eine riesige Kiste, in der sich Probeflaschen von Shampoo, Seife, Haarreiniger, Zahnpasta, Hautcreme, Gesichtswasser und Rasierschaum befinden. Ich unterhalte mich mit den Menschen. Essen dürfen die freiwilligen Helfer auf dem Gelände nicht mehr verteilen. Das wird nun von einem Berliner Krankenhausbetreiber organisiert.
© Matthias Lüdecke Essen dürfen die freiwilligen Helfer nicht mehr verteilen. Das organisiert nun ein Berliner Krankenhausbetreiber.
Fatma Fatma hilft mir beim Übersetzen. Wir treffen auf dem Gelände eine Menge Bekannte von ihr aus Syrien. Fatma kommt aus Damaskus, sie hat als Schneiderin gearbeitet. Mit ihren zwei Brüdern hatte sie sich auf den beschwerlichen Weg nach Deutschland gemacht. Erst mit dem Bus von Damaskus nach Aleppo, dann ein Fußmarsch von vier Stunden über die türkische Grenze. Mit einem Bus fuhr sie dann nach Izmir, wieder 10 Stunden laufen – sie landete in einem kleinen Dorf am Meer. Dort wartete jemand, der sie und eine Gruppe von 40 Menschen auf ein enges Schlauchboot verfrachtete. Vier Stunden ging die Reise bis nach Samos, von dort nach Athen, Mazedonien, wieder laufen – stundenlang, dann Richtung Serbien. Die Menschen schliefen auf dem Boden. Sie überquerten die ungarische Grenze, Polizisten hielten sie auf – einer schwangeren Frau schlägt ein Polizist mit einem Knüppel auf den Bauch. „They treated us like animal“, sagt Fatma. Dann kommen sie in eine Art Lager, werden eingesperrt – es gibt Brot und Wasser. Nach einigen Tagen kommen sie wieder heraus, werden dann in einen Zug gesteckt, erreichen München. Wieder warten – dann wird sie ein Bus nach Berlin bringen.
Marc Marc ist Helfer, gerade arbeitslos, kommt jeden Tag ans LaGeSo. Seit Wochen verteilt er Kleider, schenkt Tee und Kaffee aus. „Ich kann diese Geschichten der einzelnen Menschen nicht mehr hören, das belastet mich. Ich sage nur noch: Hier, Hose, Hemd, Schuhe und dann der Nächste bitte….“
Joana Joana ist eigentlich ein Mann und trägt Frauenkleider, lange schwarze Haare, auch sie ist engagiert am LaGeSo, sortiert die Hygieneartikel. „Are you a refugee?“, frage ich sie. „Nö – ich bin Deutsche, mein Papa kommt aus Mocambik und meine Mama aus Deutschland. Ich bin aus Sachsen-Anhalt geflüchtet.“
Kultur I Das Warten ermüdet, Stunden, Tage – jede Abwechslung ist bei den Flüchtlingen willkommen. Die meisten hier würden für einen Euro die Straßen säubern, nur um ein bisschen was Anderes zu machen. Vom Konzerthaus Berlin kommt eine Gruppe Musiker. Sie geben ein Konzert. Viele hören zu – endlich freundliche Klänge.
Kultur II Eine junge Frau sitzt mit einem Stuhl und einem Malblock auf dem Schoß vor dem Lager. Sie porträtiert Flüchtlinge mit schwarzer Kreide. Zwanzig Männer drängen sich um ihr Außenatelier. Jeder will gezeichnet werden. „Ich will Flüchtlingen ein Gesicht geben“, schreibt sie auf ihrer Facebook-Seite.
Kultur III Vor dem LaGeSo gibt es einen Auftritt einer Hip-Hop-Band. Rap Arabisch-Kurdisch. Einige Flüchtlinge tanzen. Familien schauen staunend zu. Ein paar Helfer haben daneben ein etwa 10 Meter langes abgeschrägtes Förderband mit Rollen aufgebaut. In Obstkisten rutschen Kinder das Förderband herunter und landen auf einer weichen Matte.
© Matthias Lüdecke Endlich ein legales Dach über dem Kopf.
Deutsch lernen! Es werden warme Socken, Babykleider, Strümpfe und Decken gesucht – aber genauso gefragt sind Erwachsene mit Sprachkenntnissen in Arabisch, Farsi, Kurdisch oder Urdu – und eben auch Deutschlehrer. In der Kleiderkammer gebe ich an 3 Tagen einen Crash-Kurs „Deutsch für Anfänger“. Zwei Frauen und fünf Männer machen mit. Morgens drei Stunden, mittags drei Stunden.
„Guten Morgen, guten Tag – ich heiße – ich komme aus...“ „Ismit Tobias – ich heiße, Du heißt, er sie es heißen“. „Bitte, danke und auf Wiedersehen.“
In der Mittagspause geht es auf der Straße weiter. „Das ist ein Auto“, „das ist ein Baum.“ Erste Fortschritte schon nach wenigen Stunden. Die Teilnehmer schreiben mit, arabische und lateinische Schriftzeichen. Ein älterer Mann setzt sich zu uns und stellt sich vor. „Darf ich stören?“ Sein Deutsch ist gebrochen, aber ich verstehe ihn. Er sei Armenier, erzählt er, war früher Hotelbesitzer in Damaskus, sein Hotel ist zerstört. Ich frage ihn, wo er sein Deutsch gelernt habe. Aus seiner Tasche zieht er drei dicke Schreibhefte. Sie sind vollgeschrieben, Wörter, Redewendungen Deutsch-Armenisch. Seit wenigen Wochen lernt er Deutsch.
© Tobias Bange „Es heißt ICH! ICH! Mit CH weich ausgesprochen.“ Es will nicht gelingen.
Die meisten meiner „Schüler“ sprechen ein passables Englisch. „I was engineer“, „I studied economy in Damaskus, Banking and Finance“, “I worked as a teacher”. Der Deutschkurs geht weiter:
„Guten Tag, wie heißen Sie?“ „ISCH Mustafa.“
„ISCH, ISCH, ISCH!“
„ISCH ALI!“
„Es heißt ICH! ICH! Mit CH weich ausgesprochen.“
Es will nicht gelingen. Ein junger Helfer aus dem LaGeSo beobachtet mich bei meinen Unterrichtsversuchen und sagt zur Gruppe: „Sagt doch einfach ICKE!“
© Tobias Bange Tobias Bange, ehrenamtlicher Helfer, gibt einen „Crashkurs Deutsch für Anfänger“
Unruhe Abends gegen 18 Uhr, kurz vor der Schließung der Registrierungsstelle. Hunderte belagern das kleine Gebäude, ich höre Sprechchöre. Aluu! achachhh! RRRRRAAAAA ba chucha – oder so ähnlich. Unverständliche Laute aus tiefster Seele. Ich bin neugierig und habe etwas Angst. Ich gehe zu einem Security-Mann, der direkt hinter der Menge der Brüllenden steht. Ich frage ihn, was los sei. Er sagt: „Das kann ein Ausdruck von Freude sein, das kann Wut sein oder denen geht's einfach schlecht: Icke versteh'se einfach nicht.“ Ich gehe näher, komme ins Gedränge. Die Männer recken ihre Fäuste und lachen. Es hat Volksfestcharakter. Aus dem Haus, wo die Registrierung stattfindet, kommen einzelne Personen. Sie werden bejubelt. Dennoch, die Stimmung könnte auch kippen. Ich wundere mich nicht über die paar Schlägereien, über die in den Nachrichten berichtet wird. Ich wundere mich eher darüber, dass es nicht viel öfter welche gibt. Gründe gäbe es genug. Die Polizei zieht mit 10 Leuten wieder ab.
© Tobias Bange Tobias Bange in Begleitung
Halal! Raus hier, raus aus dem Schrecken, dem Elend, dem Hunger, weg von den Traumatisierten, Frierenden. Ich will einen Cappucino. Fatah, meine syrische Freundin, kommt mit. Wir gehen die Turmstraße runter. Wo gibt’s einen Cappucino? Vorbei an einer polnischen Metzgerei, zwei Dönerläden und einem undefinierbaren Spielsalon, dann kommt endlich ein Ristorante – Pizzeria! Lass uns hier hineingehen, sage ich zu Fatah.
„No thank you, but this is forbidden for me. Not Haram!“
„Was ist Haram?” , frage ich. Was Halal bedeutet, weiß ich schon.
In dem Restaurant wird Alkohol ausgeschenkt, deshalb darf Fatah nicht hinein.
„What would you answer if my familiy invited you to my home and I drink a beer?”
„I would come”, sagt Fatah lachend.
Wir gehen weiter, ein anderes Restaurant taucht auf, endlich geschafft. Ich bestelle zwei Cappucinos. Als der Cappucino zubereitet wird, entdecke ich auf der Speisekarte „Münchner Weißwurst mit Brezel“. Wir bleiben trotzdem. Das übersetze ich nicht.
Titelbild: Neuankömmlinge warten am 15. Oktober 2015 hinter einer Absperrung. © AFP
Multimedia: Bernd Helfert, Natascha Vlahovic
Quelle: F.A.Z.
Veröffentlicht: 02.12.2015 13:50 Uhr
