Flucht übers Meer : Nur die türkische Polizei sieht nichts
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Lichter am Horizont: Von der Küste im türkischen Bodrum kann man die Insel Kos schon gut sehen. Dort beginnt die EU. Bild: AFP
Die Türkei sagt, sie tue alles, um illegale Migration zu unterbinden. Die Polizei im türkischen Bodrum sagt: nichts. Alle anderen aber wissen, wann und wo die Schlauchboote nach Griechenland ablegen.
Hier, an dem Strand, an den die Leiche von Aylan Kurdi geschwemmt wurde, gab es Franziskanerweizen vom Fass und Hamburger mit Pommes. Als das Boot von Aylan Kurdi irgendwo da draußen kenterte und der Dreijährige vor dem Ertrinken wohl ein letztes Mal nach seiner Mutter schrie, war im „Beach Club“ abends Live-Musik mit irgendeinem Sänger aus Adana, und wer im Fischrestaurant „Leuchtturm“ einen Tisch mit Meerblick wollte, musste rechtzeitig reservieren. Es war der zweite September, die Saison im türkischen Badeort Bodrum neigte sich ihrem Ende zu, aber noch waren Hotels und Strände voll.
Jetzt im Januar ist der Strand sich selbst überlassen. Von den Cafés und Clubs in Akyalar, einem 20 Kilometer südwestlich des Stadtkerns gelegenen Vorort von Bodrum, hat allein der „Leuchtturm“ noch geöffnet, aber auch dort kann der Kellner an diesem Vormittag einstweilen nur sich selbst bedienen. Aus dem Radio winselt ein türkischer Schlager, neben der Kasse blüht ein Bonsaikirschbaum aus Plastik, der Koch kippelt auf einem Hocker an der Garderobe und spielt mit seinem Smartphone, in der beleuchteten Vitrine neben der Küche wurde eine einsame Dorade in ihrem Übergangsgrab aus Eiswürfeln aufgebahrt und glotzt ins Nichts. Am menschenleeren Strand döst ein Hund mit dem Rücken zum Meer.
Griechenland ist nicht fern: Das Handy-Netz reicht bis in die Türkei
Es geht kaum Wind, die Wellen lutschen träge am türkischen Festland, da kommt eine SMS: „Willkommen in Griechenland! Lieber Vodafone-Kunde, surfen Sie in Griechenland für 5,99 Euro im Internet. Buchen Sie jetzt für 24 Stunden das Reisepaket Data mit 100 MB. Antworten Sie einfach per SMS mit ,Tag‘, und warten Sie auf die Bestätigungs-SMS. Freundliche Grüße, Ihr Vodafone Team.“
Wie zum Greifen nah ist die griechische Insel Kos zu sehen. So nah, dass man einzelne Häuser erkennen kann und nachts die Lichter der Autos auf den Uferstraßen. So nah, dass sich die Sendemasten der Telefonanbieter in die Quere kommen, weshalb auf Kos türkische und in Akyalar griechische Sim-Karten funktionieren. Aber für Aylan Kurdi war Kos trotzdem nicht nah genug. Das Foto des toten Jungen aus Syrien erschütterte die Welt und wurde sofort zu einer scheinbar alles erklärenden Chiffre, so wie das Bild des weinenden Mädchens in Vietnam, das nackt vor einem Napalm-Angriff davonrennt.
Fahir Üzümcü kommt zwanzig Minuten zu spät, und er sieht ein wenig so aus und hört sich auch ein wenig so an, wie jemand aussieht und sich anhört, der in der vorigen Nacht eindeutig zu viel getrunken hat. Aber vielleicht stimmt das nicht, und er hat nur schlecht geschlafen. Jedenfalls bestellt Herr Üzümcü einen starken Kaffee und sagt: „Nach dem Fall Aylan Kurdi war es für Flüchtlinge eine Zeitlang viel schwieriger und teurer, nach Kos zu kommen.“ Als nämlich das Bild des toten Jungen um die Welt ging, hätten die türkische Polizei und die Küstenwache ihre Kontrollen zur See und zu Lande vorübergehend verschärft. Deshalb konnten weniger Boote ablegen, und die begehrten Plätze für eine Reise nach Europa wurden entsprechend teurer.