Martin Schulz und Claudio Magris im Dialog : Wir dürfen Europa nicht für das sanfte Monster Brüssel halten
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Ist die Luft raus aus dem europäischen Projekt? CLaudio Magris und Martin Schulz diskutieren die Zukunft der EU. Bild: dpa
Oft beschworen: die kulturelle Vielfalt Europas. Aber welche Rolle spielt sie im politischen Tagesgeschäft? Herrscht in den europäischen Institutionen eine erzwungene Einstimmigkeit, die fast schon diktatorisch ist?
Claudio Magris: Im Europawahlkampf geht es um Währung, Arbeitsplätze, Bürokratie. Spielt die Kultur dabei überhaupt noch eine Rolle?
Martin Schulz: Die verbreitete These heute lautet, Europa sei ein bloßes Elitenprojekt. Die politische Klasse - heißt es - ist fern von den Problemen der Menschen, während nur die wirtschaftliche Oberschicht die ökonomischen Profite durch Europa einstreicht. Die Intellektuellen müssten da ganz besonders den Wert des Zivilisationsfortschritts in einem transnationalen Miteinander bemessen. Sie sollten sich auch klarmachen, was die offenen Grenzen dem Einzelnen bringen. Was wir von anderen Nationen, Sprachen, Kulturen lernen. Warum wir uns tief drinnen letztlich alle als Europäer fühlen.
Den Superstaat namens Europa wird es nie geben
Magris: Da fühle ich mich als Schriftsteller und Wissenschaftler angesprochen. Wenn man anfängt, darüber zu reden, merkt man erst, wie kompliziert dieses Gebilde der Europäischen Union doch ist. Da sind wir doch fast alle ignorant bei Fragen wie: Wo liegen die Machtgrenzen der EU-Kommission? Was hat das EU-Parlament zu sagen? Was genau ist der Europäische Rat? Immerhin finde ich es einen gewaltigen Fortschritt, wenn es endlich gemeinsame europäische Kandidaten für die Europawahlen gibt. Warum sollte ich ein Problem damit haben, als Italiener einen Deutschen zu wählen? Oder irgendwann auch mal umgekehrt - die Deutschen einen Italiener. Die meisten Probleme, diese ganze sogenannte Krise - das ist ja längst nicht mehr national zu behandeln. Ich denke etwa an die Einwanderung. Aber genau da müsste Europa auch einheitliche Richtlinien haben. Im Moment sieht es bei Steuern, Umweltschutz oder der Migration so aus, als würden überall unterschiedliche Gesetze gelten. Das ist doch, als müsste ich in Bologna mehr Steuern zahlen als in Florenz. Als hätte ich einen anderen Pass in Rom als bei mir daheim in Triest. Gegenüber solcher Kleinstaaterei träume ich vom gemeinsamen Staat Europa.
Schulz: Moment, da bin ich lange genug in der europäischen Politik, um nicht auf einen vereinheitlichten Zentralstaat hinzuarbeiten. Das würde nicht funktionieren. Den Superstaat namens Europa wird es nie geben, und den soll es auch nie geben. Dafür sind die nationalen Traditionen, Sprachen und Besonderheiten viel zu stark. Nein, was wir anstreben müssen, ist eine größtmögliche Föderalisierung des Gebildes. Nur wo die untere Ebene - die Stadt, die Region, die Nation - überfordert ist, da muss Europa gestärkt werden.
Transnationale Dimension durchdringt die Politik
Magris: Aber gleichzeitig erlebe ich gerade bei mir in Italien eine wachsende Demagogie, die das ganze Projekt in Frage stellt. Wenn es Wirtschaftsprobleme gibt - und die haben wir nun wirklich -, dann trägt ausschließlich Europa die Schuld daran. Der Euro muss weg, es lebe die Lira, so in der Art. Von antideutschen Reflexen zu schweigen, aber die haben sich Gott sei Dank nicht durchsetzen können.