Wahlrecht : Wer wählt für die Dementen?
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Sollte sie noch wählen dürfen? Eine demenzkranke Frau in einem Pflegeheim in Frankfurt (Oder) Bild: dpa
Rund 700.000 Demenzkranke dürfen in Deutschland heute an der Europawahl teilnehmen, obwohl sie durch ihre Krankheit kaum mehr selbst entscheiden können. Eine Debatte darüber ist überfällig. Aber niemand will sie führen.
An diesem Sonntag werden Hunderttausende Deutsche bei der Europawahl ihre Stimme abgeben und dabei nicht wissen, was sie tun. Manche von ihnen werden in der Wahlkabine die Partei ankreuzen, die ihnen kurz zuvor genannt worden ist - vom Ehepartner, vom Sohn oder der Tochter. Aber sie werden sich Minuten später nicht mehr erinnern, für wen sie gestimmt haben. Fragt man sie, können sie es nicht mehr sagen. Viele werden sogar nicht mehr wissen, dass sie an einer Wahl teilgenommen haben. Andere haben Tage zuvor in den eigenen vier Wänden ihr Kreuzchen gemacht, bei der Briefwahl. Auch sie können sich an diesem Sonntag nicht mehr erinnern, wen sie gewählt haben. Ihnen hat man gesagt, welche Partei sie wählen sollen. Oder hat gleich das Kreuz für sie gemacht. Die Leute, die wählen und nicht wissen, was sie tun, sind alt und krank. Sie sind dement.
In Deutschland leben 1,4 Millionen Demenzkranke, sie sind alle volljährig und fast alle wahlberechtigt. In zwanzig bis dreißig Jahren wird sich ihre Zahl verdoppelt haben. Es werden drei Millionen sein. Bei gut 60 Millionen Wahlberechtigten machen sie dann fünf Prozent aus.
Demenz ist eine schleichende Krankheit. Die Erkrankten durchlaufen Stadien. Es gibt lichte Momente, aber insgesamt verschlechtert sich der Zustand. Am Ende sprechen sie nicht mehr, erkennen die engsten Angehörigen nicht. Wer eine leichte Demenz hat, kann problemlos wählen. Auch bei einem mittleren Stadium ist das möglich. Das ist die eine Hälfte der Erkrankten. Bei schwerer und schwerster Demenz wird es schwierig. Ein schwer Demenzkranker ist nicht mehr entscheidungsfähig. Die Wahlfähigkeit ist erloschen. Das ist die andere Hälfte der Erkrankten – bis zu 700000 Personen.
Bei Wahlen kommt es oft auf wenige Stimmen an. Bei Kommunalwahlen ist das regelmäßig der Fall. Selbst Bundestagswahlen gehen knapp aus. Im vergangenen Jahr fehlten der FDP weniger als 90000 Stimmen zum Einzug ins Parlament. Hätte sie die bekommen, hätten wir eine andere Bundesregierung. Ist es da vertretbar, dass Hunderttausende wahlberechtigt sind, die keine Entscheidung mehr treffen können? „Es ist schon schwer zu erklären, warum jemand mit schwerster Demenz, der die eigenen Kinder nicht mehr erkennt, grundsätzlich sein Wahlrecht behält“, sagt Jens Spahn, der gesundheitspolitische Sprecher der CDU im Bundestag.
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Eine Straftat, die selten aufgedeckt wird
Manche Demenzerkrankte wollen wählen, können es aber nicht mehr. Selbstüberschätzung gehört zur Demenzkrankheit. Der Wille zu wählen sagt nichts darüber aus, ob der Erkrankte es noch kann. Viele Kranke können kein Gericht mehr auf der Speisekarte aussuchen, mit einer Wahlentscheidung sind sie überfordert. Dann wählen oft andere für sie. In den Familien, in denen Demenzkranke gepflegt werden, wird häufig Briefwahl beantragt. Sie ist das größte Einfallstor für den Missbrauch des Wahlrechts. Denn niemand kann nachprüfen, wer den Zettel ausgefüllt hat.
Wenn man mit Angehörigen von Demenzkranken spricht, dann sagen sie oft, dass sie für ihre Mutter oder ihren Bruder genau so wählen, wie er oder sie früher selbst gewählt hat. So kommt es, nett ausgedrückt, zu einer Stellvertreterwahl. Die gibt es im deutschen Wahlrecht aber nicht. Bei Wechselwählern funktioniert dieser Ansatz nicht. Zudem können sich Meinungen ändern. Vielleicht hätte der Erkrankte ja taktisch gewählt, damit eine bestimmte Koalition an die Regierung kommt? Mancher Angehörige nimmt aber nicht den früheren Willen des Erkrankten als Richtschnur, sondern schlägt die Stimme des Demenzkranken der Partei zu, die er selbst bevorzugt. Solange er ihm nicht die Hand führt, ist das zwar eine Manipulation, aber nicht strafbar. Sobald ein anderer an Stelle des Wahlberechtigten das Kreuz macht, ist es eine Straftat. Nur wird sie so gut wie nie aufgedeckt.