Viktor Orbán im Gespräch : „Es gibt ein verborgenes Europa“
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„Wir verlieren immer mehr an Bedeutung, und wir werden immer weniger“: Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán sorgt sich um ein immer schwächeres Europa Bild: Helmut Fricke
„Nationen ohne Charakter und Ambitionen vermögen die europäische Gemeinschaft nicht groß zu machen“: Der ungarische Premier Viktor Orbán über Nationalstolz, Christentum, deutsche Größe und Ungarn im Auge der Weltpolitik.
Herr Ministerpräsident, Sie werden derzeit von den Brüsseler Institutionen kritisiert wie kein zweiter EU-Regierungschef. Wir werden darüber noch reden. Aber zuerst interessiert uns, wie Sie den Zustand Europas sehen.
Ich habe eine geistige Karte vor mir. Und das, was ich dort erkenne, erfüllt mich mit außerordentlicher Sorge. Wenn ich die Entwicklung der Welt in den nächsten zwanzig Jahren betrachte, dann sehe ich auf dieser Karte ein immer schwächeres Europa. Wir verlieren immer mehr an Bedeutung, und wir werden immer weniger, bezogen auf die gesamte Weltbevölkerung und auch im Vergleich zum früheren Europa. Unser Anteil am Welthandel und am Weltsozialprodukt sinkt immer weiter. In unserer europäischen Demokratie und in unserem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem verlieren immer mehr Menschen das europäische Selbstvertrauen - weil sie sehen, dass diejenigen, die ihre Wirtschaft und ihre Gesellschaft anders einrichten als wir, in immer größerer Zahl erfolgreicher werden als wir selbst.
Warum ist das so?
Ich habe das Gefühl, dass ein Großteil der europäischen Spitzenpolitiker seinen Glauben an das verloren hat, was Europa einst groß und zu einem Einflussfaktor in der Welt gemacht hat. Mehr noch, es scheint, als wäre es etwas Schamhaftes oder etwas Verbotenes, über dieses Thema zu sprechen. Wir kommen nicht umhin festzustellen, dass diejenigen, die jetzt emporkommen, mutig zu ihrer geistigen Identität stehen: der Islam zum Islam, die östlichen Völker zu ihren östlichen Traditionen und zu ihrem geistigen System. Dabei geht es nicht nur um Gott, sondern auch um die Kultur, die vom jeweiligen traditionellen Glauben geprägt wurde. Wir aber verzichten auf die Kraft, die aus der Tatsache stammt, dass dies die Welt der christlichen Kultur ist. Die Erfolgreichen stehen dazu, dass es keine Zukunft gibt ohne Kinder und Familie.
Sie glauben, Europa verleugnet seine Herkunft?
Wir empfinden es als Verdienst, wenn wir über die herkömmlichen Lebensformen als etwas sprechen, was bereits aus der Mode oder längst in Vergessenheit geraten ist. Ich habe das Gefühl, dass wir im Interesse der Diskussionskultur und der politischen Korrektheit gar nicht mehr über die Dinge sprechen, die nötig sind, damit wir als maßgebende Zivilisation bestehen bleiben können. Es gibt etwas, das ich als verborgenes oder geheimes Europa bezeichne. Dieser Teil wird in der Öffentlichkeit sehr selten thematisiert. Und er tritt nicht mit dem europäischen Anspruch auf, wieder zur bestimmenden Denkweise, Kultur und politischen Richtung zu werden.
Sie stützen sich auf Religion, Nation und Familie. Geht der Fortschritt nicht in eine andere Richtung? Weg von der Nation, weg von der Familie, weg von der Religion?
Das ist einer der Gründe für meinen Spießrutenlauf. Es gibt nämlich eine Auslegung der europäischen Geschichte, der europäischen Zukunft, wonach wir aus der Religiosität in die Säkularisation, aus dem traditionellen Familienmodell in Richtung verschiedenartiger Familienmodelle und aus den Nationen in Richtung Internationalismus oder zur Integration marschieren. Was ich denke, geht klar in die andere Richtung. Der Streitpunkt ist, was dabei vorwärts ist und was rückwärts. Ich kämpfe dagegen, dass das, was sich in der ungarischen Verfassung ausdrückt, als etwas gedeutet wird, das in die Vergangenheit weist. Denn wenn ich einen Blick auf die Weltkarte werfe, dann sind die Dinge, über die ich spreche, jene, die eine Lösung darstellen können für den schrumpfenden europäischen Einfluss in der Welt.