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Vor der Präsidentenwahl : Liberale Polen fürchten die „Orbánisierung“

Ein inoffizieller Statthalter Moskaus? Andrzej Duda Bild: dpa

Vor der Stichwahl in Polen warnen Anhänger des Amtsinhabers Komorowski vor einer „Orbanisierung“ des Landes. Sie sehen den Europakurs Polens in Gefahr, falls Herausforderer Andrzej Duda gewinnt.

          3 Min.

          Eine Woche vor der zweiten Runde der polnischen Präsidentenwahl schwirrt ein neues Wort durch Warschau: der Alarmruf von der „Orbanisierung“. Der ultraliberale frühere Finanzminister Leszek Balcerowicz hat es unlängst benutzt, die liberale Presse greift es auf, es klingt nach „Gefahr im Verzug“ und „alle Mann an Deck“.

          Konrad Schuller
          Politischer Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin.

          Anlass der Wortschöpfung war der erste Wahlgang am 10. Mai. Der haushohe Favorit, der bis vor kurzem allseits beliebte, wenn auch etwas behäbig daherkommende zentristische Amtsinhaber Bronislaw Komorowski, ist an diesem Tag spektakulär eingebrochen. Der vor kurzem noch völlig unbekannte Kandidat der nationalkatholischen Rechten, Andrzej Duda, hat ihn mit 34,76 zu 33,77 Prozent auf Platz zwei verwiesen, während die Mehrheit der Jugend einem politisch weitgehend unbeleckten Rocksänger namens Pawel Kukiz ins Nirwana der Protestwähler folgte.

          Seither hängt, dräuend oder verheißungsvoll, je nach Standpunkt, die Perspektive eines Machtwechsels über Warschau. Neueste Umfragen zeigen, dass Duda, hinter dem sein politischer Erfinder, der konservativ-klerikale frühere Ministerpräsident Jaroslav Kaczynski, die Fäden zieht, seinen Vorsprung vor Komorowski nach dem ersten Wahlgang sogar noch ausgebaut haben könnte. Für die Parlamentswahl, die im Herbst folgen wird, schließen die Demoskopen einen Machtwechsel von Komorowskis proeuropäischer „Bürgerplattform“, zu Kaczynskis Partei „Recht und Gerechtigkeit“ ebenfalls nicht mehr aus.

          Ein inoffizieller Statthalter Moskaus?

          In diesem Zusammenhang nun ist der Alarmruf von der „Orbanisierung“ Polens zu lesen. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, sein unbarmherziger Griff nach der Macht, sein Nationalismus und sein begrenzter Respekt vor den Regeln und Werten der Europäischen Union sind seit längerem schon das erklärte Vorbild der polnischen Konservativen.

          Der bis vor kurzem allseits beliebte, wenn auch etwas behäbig daherkommende Amtsinhaber Bronislaw Komorowski ist im ersten Wahlgang spektakulär eingebrochen.
          Der bis vor kurzem allseits beliebte, wenn auch etwas behäbig daherkommende Amtsinhaber Bronislaw Komorowski ist im ersten Wahlgang spektakulär eingebrochen. : Bild: AP

          Komorowski und das regierende liberal-zentristische Lager versuchen seither herauszustellen, dass ein Wahlsieg des Konservativen Duda das Ende der konstruktiven polnischen Europapolitik sein könnte, welche die vergangenen Jahre gekennzeichnet hat. Komorowski hat immer wieder darauf hingewiesen, dass das „radikale Polen“ – so nennt er das Milieu seines Gegenkandidaten – sich zuletzt in einer von Krieg überschatteten Welt „vereinsamt an der Peripherie Europas“ wiederfinden könnte.

          Angesichts des wiedererwachten russischen Hegemonialstrebens könne das zur akuten Gefahr für die Sicherheit des Landes werden, denn „wo der Westen aufhört, beginnt das Feld der neoimperialen Aggression“. Die radikale Konsequenz daraus hat die liberale „Gazeta Wyborcza“ gezogen: Duda, der Mann der Konservativen, könne mit seinen euroskeptischen Ansätzen als Präsident zu einem „Baschkan“ Moskaus werden, zu einem inoffiziellen Statthalter, wie das Imperium sie in benachbarten proeuropäischen Ländern, etwa in Moldau, gerne unterhalte, um ihre Eingliederung in die Union von innen her zu vereiteln.

          Die Angst sitzt tief

          Die Sorge ist nicht aus der Luft gegriffen. Orbán, das ungarische Vorbild der polnischen Konservativen, hat tatsächlich immer wieder versucht, durch ostentative Nähe zum russischen Präsidenten Wladimir Putin Europa unter Druck zu setzen, und Duda, der neuerdings so rasant aufsteigende polnische Präsidentenkandidat, hat im Wahlkampf immer wieder verkündet, unter seiner Führung werde Polen in der EU nicht mehr wie bisher nur „im Hauptstrom schwimmen“, sondern „mit harter Stimme“ seine Interessen vertreten.

          Tatsächlich hat ein euroskeptischer Grundton von Anfang an zu den Konstanten seiner noch sehr jungen Karriere gehört. Die baldige Einführung des Euros, der etwa im benachbarten Baltikum als unentbehrliche Sicherung gegen russische Begehrlichkeiten und damit als Pfeiler der nationalen Sicherheit gesehen wird, lehnt er als Gefahr für Polens „Souveränität“ ab. Die euroskeptische Linie geht quer durch Dudas Programm. Der Kandidat lehnt die Klimapolitik der EU wegen ihrer Kosten für den polnischen Bergbau kategorisch ab. Auch am Europarat übt er Kritik, zum Beispiel am Übereinkommen zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen, weil dies die traditionelle Familie untergrabe.

          Für Polens Verhältnis zu Deutschland könnte entscheidend werden, dass die Wirtschafts- und Finanzpolitik Warschaus sich mit einem Machtantritt der Nationalkonservativen aus dem bisherigen Konsens der Länder verabschieden könnte, welche ihr Heil in fiskalischer Disziplin und Sparsamkeit suchen. Seine Wahlkampfversprechen – mehr Kindergeld, höherer Mindestlohn, früherer Renteneintritt – könnten Polens Haushalt endgültig vom ohnehin schon nicht völlig konsequenten Konsolidierungskurs der jetzigen Regierung unter Ewa Kopacz abbringen und das Land in einen Konflikt mit der EU treiben.

          Welche Auswirkungen die „Orbanisierung“, die das Lager Komorowskis jetzt an die Wand malt, auf das Verhältnis zu Moskau hat, lässt sich noch nicht sagen. Für die polnische Rechte ist die Abneigung gegen Moskau ein Grundinstinkt, ein Identitätsmerkmal wie die Verehrung der Muttergottes von Tschenstochau und der Helden von der Westerplatte. Sie hat die ebenfalls tiefsitzende Angst vor Deutschland längst in den Schatten gestellt, und die finstere, allerdings von Ermittlungsergebnissen nicht gestützte Erzählung, der 2010 über Russland mit dem Flugzeug abgestürzte Präsident Lech Kaczynski (der Bruder des heutigen Oppositionsführers) sei in Wahrheit Opfer eines russischen Mordkomplotts geworden, ist ihr am heißesten geliebter Mythos.

          Falls Duda am Sonntag gewinnen sollte, könnte es deshalb so kommen wie 2007, als die Kaczynski-Brüder schon einmal massiv gegen den europäischen Verfassungsvertrag Front machten. Am Ende haben sie dann doch im letzten Augenblick noch eingelenkt. Brüssel ist schlimm, aber Moskau ist eben noch schlimmer.

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