Kommentar : Sie sind unsere Schwestern und Brüder!
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Eine junge Griechin bei einer Demonstration der Nachwuchsorganisation der Kommunistischen Partei am Freitag in Athen: Keine Europäer zweiter Klasse! Bild: dpa
Europäische Integration bedeutet Frieden - das ist kein leeres Gerede! Sondern der Kern des ganzen Projekts. Es gibt keinen besseren Weg. So werden wir auch den Griechen weiter helfen müssen - so oder so.
Ich sah eine Frau am Grab ihres Großvaters weinen. Ich fragte, warum, denn sie hatte ihn nie gekannt. Sie erzählte viel, über Leid, das gelindert wurde, und Leid, das sich fortpflanzte über Generationen. Aber sie konnte nicht erklären, warum sie über all das weinte, hier in Costermano, am grauen Stein mit dem Namen ihres Großvaters. Einem von zehntausend Steinen. Auf jedem stehen zwei Namen. Über zwanzigtausend deutsche Soldaten ruhen hier, bedeckt von Heidekraut. Beim Marschieren haben sie gesungen: „Auf der Heide blüht ein kleines Blümelein. Und das heißt: Erika.“ Nazikitsch. Jetzt blüht das Blümelein über ihren Gebeinen, über Guten und Bösen, Tätern und Opfern. Was hat sie bewegt? Rassenhass, Sadismus, Zorn, Angst, Verzweiflung, Verblendung, Heimweh, Sehnsucht, Liebe? Viele noch halbe Kinder. Dort ein Junge, kaum vierzehn Jahre alt. Er hatte sich freiwillig gemeldet und nach drei Tagen im Gefecht selbst erschossen.
Auf dem Friedhof wohnt ein Mann mit seiner Familie: der Gärtner beziehungsweise Direktor. Es läuft auf dasselbe hinaus für einen, der sein Leben an so einem Ort verbringt. Über dem Friedhof stehen fünf schöne Zypressen. Von dort hat man einen Blick weit über den Gardasee. Der Direktor erzählt: Die Grundstücke hatte der „Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge“ eigentlich schon zusammen, als dem Herrn der Zypressen einfiel, dass jeder einzelne der schönen Bäume eine Million Lire wert sei. Viel Geld damals, in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre. Der Volksbund bat den jungen Bürgermeister des Dorfes um Hilfe. Der hatte das Geld: die nach dem Kriege mühsam ersparten Mittel für eine Wasserleitung. Das wollte er aber nicht für einen Friedhof ausgeben, auf dem die Gebeine der deutschen Soldaten aus Norditalien zusammengeführt wurden. Doch dann entschied er sich um. So konnte der Friedhof errichtet werden, und jedes Jahr kommen die Angehörigen der Gefallenen aus Deutschland hierher. Die Wasserleitung konnte bald gebaut werden.
Der Ort einer Wahrheit
Pete Seeger hat dieses unsterbliche Lied gegen den Krieg geschrieben: zu Deutsch „Sag mir, wo die Blumen sind“; es geht übrigens auf ein ukrainisches Vorbild zurück. Die Mädchen pflücken die Blumen, die Männer pflücken die Mädchen, der Krieg pflückt die Männer, über Gräber weht der Wind, und dann ist bald alles vergessen und beginnt von vorn. Wenn man oben neben den Zypressen steht und über den Gardasee schaut, erblickt man am anderen Seeufer Salò, Mussolinis letzte Zuflucht. In den Wirren des Kriegsendes kam hier alles zusammen: ein italienischer Bürgerkrieg, ein merkwürdiger Halbkrieg zwischen einstigen Verbündeten, der Vormarsch der westlichen Alliierten, der Kampf der Kommunisten gegen Faschismus, Kapitalismus und Kirche, und dazu noch die Schandtaten der Gelegenheit: Rache, Mord, Denunziation, Vergewaltigung, Raub und Plünderung. Wie ein entzündeter Knoten aus Lebensnerven.
Ja, wenn man neben den Zypressen steht und über die herrliche Bucht, den spiegelnden See, die blauen Berge schaut, dann kann man glauben, die unsichtbaren Linien zu sehen, die sich hier schon immer kreuzten, die Macht der Venetianer, der Habsburger, der vielfach wechselnden Herren der Lombardei. Und den Krieg, der immer wieder kam, so regelmäßig wie die Fallwinde über den See, tausend Jahre, zweitausend Jahre. Es gibt viele solcher Orte in Europa, wo sich die Linien kreuzen, Knotenpunkte eines unsichtbaren Netzes, das über dem Kontinent liegt, Orte, wo die Blumen blühen und der Wind über die Gräber weht und wo es so schön ist.