Italiens Parlamentspräsidentin : „Keine Toleranz für Fremdenfeindlichkeit“
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Vorschläge zur Bewältigung der Flüchtlingskrise: die italienische Parlamentspräsidentin Laura Boldrini im Februar bei der Amtseinführung in Rom Bild: dpa
Warum streben gerade jetzt so viele Flüchtlinge nach Europa? Die italienische Parlamentspräsidentin und frühere UNHCR-Mitarbeiterin Laura Boldrini im Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Frau Laura Boldrini; derzeit sind Sie Präsidentin der italienischen Abgeordnetenkammer; aber bis 2012 arbeiteten Sie für das UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR). Können Sie erklären, warum gerade jetzt so viele Flüchtlinge nach Europa kommen?
Wir haben es mit der höchsten Zahl von Flüchtlingen seit dem Zweiten Weltkrieg zu tun. Etwa 60 Millionen Menschen weltweit müssen fliehen und können nicht mehr ihr Recht wahren, zu Hause in Sicherheit bleiben zu dürfen. Syrien stellt derzeit die schlimmste humanitäre Krise dar. Dort sind zwölf Millionen Menschen entwurzelt. Davon sind vier Millionen nach Libanon, Jordanien oder in die Türkei geflohen. Dort waren die Versorgungsstandards in den Lagern zunächst leidlich gut. Jetzt aber macht sich eine dramatische Gebermüdigkeit breit, und das Lagerleben verschlechtert sich. Zugleich sehen die entwurzelten Menschen keine Chance, in ihre Heimat zurückzukehren; und so packen sie alles Geld zusammen, das sie noch haben und riskieren den großen Sprung nach Europa, denn sie haben nichts zu verlieren. Ähnliches gilt für viele Menschen aus nach wie vor von Diktaturen und Konflikten betroffenen Krisenstaaten in Afrika.
Europa erscheint aber völlig überrascht und überfordert zu sein.
Tatsächlich glaubten wir in Europa lange, diese Krisen in der Nachbarschaft hätten nichts mit uns zu tun. Doch das Flüchtlingsdrama ist auch unser Problem, und es eröffnet uns eine Chance zur Neubelebung der politischen Integration auf unserem Kontinent. Am Anfang dieser Erkenntnis muss freilich die Forderung stehen: Null-Toleranz gegenüber Fremdenfeindlichkeit und Gewalt. Ich teile da vollends die Auffassung von der Bundesregierung, von Bundeskanzlerin Merkel. Wir können nicht die Demokratie ernst nehmen wollen, aber Flüchtlingen Menschenrechte und demokratische Freiheiten versagen. Das ist für uns eine rechtliche und moralische Verpflichtung. Um diese Situation zu bewältigen, darf Europa keine Mauern errichten. Gewiss, es ist schwieriger in Krisen demokratisch zu handeln; aber nur in Krisen erweist sich auch die die Stärke des demokratischen Systems.
Das sind hehre Worte; derzeit aber können sich die Europäer nicht einmal auf Quoten der Verteilung von Asylbewerbern einigen.
Dabei muss nun endlich das Asylproblem auf europäischer Ebene zentralisiert werden und zur Umsetzung dessen die europäischen Institutionen mehr Macht und Mittel bekommen. Bisher ist Europas Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) mit Sitz in Valletta auf Malta eine kaum genutzte und zahnlose Institution. Dieses Amt muss mehr Mitarbeiter und Geld erhalten, um zur „Regiekabine“ beim Umgang mit Asylanten in der EU zu werden. Asylbewerber müssten durch europäische Expertenteams nach denselben Kriterien angehört und ausgewählt werden.
Bei der Auswahl des Asyllandes sollten Gesichtspunkte der Familienzusammenführung berücksichtigt werden; aber grundsätzlich sollten Asylbewerber nach einem Quotensystem anhand von festen und einheitlichen Kriterien auf jedes EU-Land verteilt werden. Es muss europaweit gleiche Versorgungsstandards und die dafür notwendigen Mittel geben, um das „Asylshopping“ zu verhindern, bei dem Asylbewerber in das Land streben, das ihnen die sichersten Chancen für eine Anerkennung des Asylantrags sowie die besten Lebensverhältnisse ermöglicht. Ein Asylsuchender sollte in Griechenland nicht schlechter versorgt werden als in Deutschland.
Italien wird immer wieder vorgeworfen, es setze die EU-Vorschrift nicht durch, wonach ein Migrant im ersten EU-Land, das er erreicht, auch identifiziert wird.
Generell möchte ich diesen Vorwurf zurückweisen. Italien will seine Verpflichtungen einhalten. Andererseits fällt es den Beamten oft schwer, den Migranten zum Beispiel Fingerabdrücke abzunehmen. Weil diese Menschen nicht in Italien bleiben wollen, leisten sie Widerstand, und man sollte sie nicht mit Gewalt zwingen. Ich habe das selbst gesehen: Frauen, die vor Beamten auf den Boden gingen und ihre Hände verkrallten, um Ihre Fingerabdrücke nicht abnehmen zu lassen. Nicht wenige Migranten haben ihre Fingerkuppen mit Säure behandelt, um die Abnahme von Fingerabdrücken zu verhindern. Auch solche Probleme bringt die Dublin-Regelung mit sich, die Flüchtlingen vorschreibt, in dem EU-Land zu bleiben, in dem sie zuerst angekommen sind.
Sie haben davon gesprochen, dass es bei Fremdenfeindlichkeit keine Toleranz geben dürfe. Tatsächlich aber sitzen doch auch in Ihrem Parlament Abgeordnete, die in den Fremden „Zecken“ im Pelz der Italiener sehen.
In der Abgeordnetenkammer gibt es verschiedene politische Kräfte, für die Werte wie Aufnahme und Solidarität im Mittelpunkt stehen. Das zeigt sich bei Debatten, wo es auch um das schwere Leid jener geht, die über das Mittelmeer zu uns zu fliehen versuchen, oder wenn wir über die Unzulänglichkeit in einigen Aufnahmezentren reden. Aber da gibt es eben auch jene, die ihre Fremdenfeindlichkeit offen ausdrücken, und wir antworten nicht immer entschlossen genug, wenn jemand eine hasserfüllte Sprache benutzt. Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz müssen auch im Parlament stigmatisiert werden. Da müssen wir unnachsichtiger sein.
So wie Deutschland in Regionen geteilt ist, die Fremden gegenüber offener sind als andere, zerfällt Italien in einen zwar armen aber fremdenfreundlichen Süden und einen hartherzigen reichen Norden. Wie kommt das?
Das hängt mit der Geschichte zusammen: Im Süden, vor allem in Sizilien und Kalabrien, ist die Auswanderung lebendige Erfahrung oder wache Erinnerung. Viele wissen, wie es ihren Verwandten in den Vereinigten Staaten, Lateinamerika oder Europa als Fremden ging. Zudem leben seit Jahrhunderten im Süden mehr „Andere“ unter den Italienern als im Norden. Im Süden Italiens hat man vor Fremden weniger Angst. Im Norden dagegen scheint die Erinnerung an Auswanderung vergessen. Tatsächlich aber gibt es im Süden Italiens weniger Arbeitsplätze für Migranten, während der Norden die Migranten für die Wirtschaft braucht.
Die Fragen stellte Jörg Bremer.
Laura Boldrini
Laura Boldrini wurde 1961 in den Marken geboren, studierte Jura in Rom, arbeitete dann bei der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt Rai, bis sie 1989 zu den Vereinten Nationen wechselte; zunächst zur Welternährungsorganisation (FAO), ab 1993 zum Welternährungsprogramm (WFP) und dann 1998 zum UN-Flüchtlingskommissar (UNHCR); seit der nationalen Wahl im Februar 2013 sitzt sie als Abgeordnete der linkssozialdemokratischen Fraktion „Linke-Ökologie-Freiheit“ im Abgeordnetenhaus und wurde kurz darauf zur Präsidentin gewählt. (jöb.)