
Europäische Union : Unbeholfene Proteste
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Premierminister Cameron im britischen Parlament Bild: dpa
Die bisherigen Proteste britischer Staatsmänner hatten begrenzte Folgen. Doch die Euro- und EU-Krise bestärkt viele Konservative in ihrem Willen auszusteigen.
Britische Politiker favorisieren neuerdings die demonstrative Abwesenheit bei politischen Ereignissen als eine Art Stellungnahme. Nachdem Premierminister Cameron in Brüssel kurzerhand sein Land zurückzog aus den Vorarbeiten, die europäischen Verträge zur Lösung der Euro-Krise zu ändern, blieb jetzt wiederum der Anführer der Liberaldemokraten, Nick Clegg, Camerons Erläuterungen zu diesem Schritt fern.
Cleggs liberaldemokratische Partei hält als einzige im britischen Parteienspektrum die Europäische Union noch in hohem Ansehen. Das liegt an der Prägung ihrer Mitglieder, an den vielfältigen europäischen Wurzeln ihres Parteichefs, an den Regierungsressorts der Liberaldemokraten (Energie und Wirtschaft) in der Koalition mit den Konservativen und an dem Selbstverständnis dieser kleinen Partei, die im konfrontativen System Britanniens immer auf Zusammenarbeit und Kompromisse aus sein muss, um Einfluss zu gewinnen.
Nur die Flucht als Ausweg
Clegg ließ seinen Sitz im Unterhaus leer, um gegen eine Entscheidung Camerons zu demonstrieren, die von den Liberaldemokraten gleichermaßen als Brüskierung Europas und Abkehr Britanniens von Europa empfunden wurde. Das Fernbleiben des stellvertretenden Premierministers wirkte jedoch als unbeholfener Versuch, den eigenen Protest zu zeigen, ohne das Regierungsbündnis mit den Konservativen insgesamt in Gefahr zu bringen.
Ähnlich holprig und mit - kurzfristig - begrenzten Folgen hat Camerons Brüsseler Abwendung vom Entscheidungstisch der EU in der Nacht zum Freitag auch schon ausgesehen. Die politischen Debatten in Westminster sind vorerst an der Frage vorbeigegangen, was das Nein eines britischen Premierministers zu einer Änderung der EU-Verträge auf Dauer für die europäische Binnenstruktur und für Britannien selbst bedeuten werde. Stattdessen fragen die Klugen in Whitehall erst einmal, wie es dazu kommen konnte, dass der europäische Gipfel von britischer Seite so ungenügend vorbereitet worden war, dass Cameron sich am Ende in einem Entscheidungszwang sah, in dem ihm nur die Flucht als Ausweg möglich schien.
Die Geduld mit britischen Extravaganzen ist erschöpft
In Abwesenheit seines Stellvertreters gab Cameron sich im Parlament Mühe, die Abgeordneten und die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass weder seine noch Cleggs symbolische Gesten viel Einfluss auf das Schicksal Britanniens hätten: Das Land bleibe selbstverständlich ein aktives und konstruktives Mitglied der Europäischen Union, und ohne Zweifel werde das Regierungsbündnis Britannien weiter durch die schweren Zeiten führen.
Das war als eine Art europäisches Basta auch an jene eigenen Hinterbänkler adressiert, die auf der Suche, was konservativ sei, seit vielen Jahren schon „gegen die EU agitieren“ und dann ihre Identität finden. Cameron, der vor sechs Jahren selbst mit anti-europäischen Hieben seine Position an der Spitze der Partei errang, hat seither damit zu tun, die gegen die EU gerichteten Aggressionen alter und junger Abgeordneter in seiner Fraktion einzuhegen. Immer wieder ist er ihnen entgegengekommen (bis hin zu der Geste, sich selbst als „Euro-Skeptiker“ zu etikettieren), ohne sie in ihren Forderungen - Volksabstimmung über EU-Austritt lautet die schärfste - je zufriedenstellen zu können. Sollte Cameron die Schar seiner „Euro-Skeptiker“ womöglich gar in den letzten Wochen deswegen zum Bellen ermuntert haben, damit der Lärm ihm in Brüssel als Argumentationshilfe dienen könnte, hat er sich jedenfalls verrechnet: Die europäische Geduld mit britischen Extravaganzen hat sich in der Stunde dieser Krise erschöpft.
„Wir haben Europa einfach satt“
Innenpolitisch zeigt Cameron der antieuropäischen Meute nun die leere Hand, angeblich ohne Furcht vor Bissen. Der Parteiführer der Konservativen weiß, dass das hellblaue Reform-Bild, in das er mit großer Mühe seine Partei getaucht hat, von zu viel antieuropäischem Eifer verdunkelt werden würde. Es ist ihm auch bewusst, dass der Programmstreit der Tories in der Europa-Politik vier seiner Vorgänger um den Vorsitz brachte, weil die zornige Abkehr von Europa bislang keine Mehrheiten gewinnende Haltung auf den britischen Inseln war.
Also sucht Cameron, gestärkt durch sein symbolisches Brüsseler Nein, vorerst Ruhe zu schaffen unter jenen Tories, die sich im EU-Zwinger fühlen. Doch die Euro-Krise erscheint vielen von ihnen zu verlockend zu sein, um die Gelegenheit für einen Ausbruch aus den europäischen Zwängen verstreichen zu lassen. „Wir haben Europa einfach satt“, bekannte jüngst einer der einflussreichen Hinterbänkler, die in Fraktionszirkeln den Aufstand organisieren. Und wenn sie auch ihre Ziele - etwa die Volksabstimmung - jetzt nicht durchsetzen können, erreichen sie doch ähnlich wirksame Erfolge.
Sie zwingen Cameron und andere Führungsmitglieder immer stärker dazu, die Mitgliedschaft in der EU durch das schiere „nationale Interesse“ zu rechtfertigen und zu begründen, also die Botschaft zu verkünden: „Wir sind nur deswegen Mitglied, weil es unseren Zwecken dient.“ Es ist dieser blanke Utilitarismus, dem jeder Hinweis auf eine gemeinsame Stärke und auf einen europäischen Zweck fehlt, der auf Dauer in Britannien nicht überzeugend wirken kann und von den Kontinentaleuropäern als kränkend empfunden werden wird.