Europas Union : Im Würgegriff der Populisten
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Londons scheidender Bürgermeister Boris Johnson gehört zu Großbritanniens bekanntesten Brexit-Verfechtern. Bild: dpa
Trump in Amerika – „Brexit“ in Europa? Wie immer mehr Kräfte von ganz rechts oder ganz links die politischen Landschaften umpflügen – und uns lahmlegen.
Vor Monaten hat Pat Buchanan, der es als Kommunikationsdirektor unter Reagan zu einiger Bekanntheit gebracht hatte, eine brisante Beobachtung gemacht: Nationalismus und Tribalismus seien heute Antriebskräfte der Politik und nähmen die übernationalen Institutionen auseinander.
Buchanan hat mehrfach selbst versucht, als Möchtegernpräsident eine populistische Revolte anzuzetteln. Die Resonanz war jedes Mal bescheiden. Bekanntermaßen ist das in diesem Wahljahr anders: Für die Republikaner dürfte Donald Trump als Protagonist eines autoritären, nach innen gewandten Populismus in den Kampf ums Weiße Haus ziehen.
Die politischen Landschaften werden umgepflügt
Die Beobachtung Buchanans bezieht sich auf die Vereinigten Staaten, aber sie gilt darüber hinaus für Europa. Auch in vielen europäischen Ländern sind Kräfte am Werk, die von (ganz) rechts und von (ganz) links am Selbstverständnis der Politik, an den Institutionen und Parteien zerren und rütteln. Die Einschätzung, dass Europa auf dem Weg zu einer neuen politischen Realität sei – man denke an den Front National, an die Aufregung um die Alternative für Deutschland hierzulande und die Ermattung der klassischen Volksparteien –, ist nicht gewagt. Sie ist plausibel.
Die politischen Landschaften werden umgepflügt; so ist es gut möglich, dass am 22. Mai Norbert Hofer für die rechte FPÖ, die wider das „Establishment“ zu Felde zieht und gegen die EU agitiert, zum neuen Bundespräsidenten Österreichs gewählt wird. Welch ein Paukenschlag wäre das! Wäre es ein Vorspiel zur französischen Präsidentenwahl im kommenden Jahr?
Zum Verlierer der neuen politischen Realitäten droht die Europäische Union zu werden; vielleicht ist sie das schon. Von zwei Seiten wird sie in die Zange genommen: Da ist das Misstrauen, das, ob berechtigt oder von interessierter Seite angefächelt, der EU von „unten“ entgegenschlägt und viele Bürger zu deren Kritikern und Gegnern treibt; und da sind die Mitgliedstaaten, die sich gegen die EU und gegeneinander in Stellung bringen.
„Die Fliehkräfte der Krisen treiben uns auseinander“
In der Auseinandersetzung über die Flüchtlingspolitik sind, wie auch schon während der heißen Tage der Schuldenkrise, grundsätzliche Unterschiede und Interessendivergenzen aufgebrochen. Wenn Europapolitiker die Lage beschreiben, fallen die Düsternis und die Dramatik auf, mit der sie das tun und in die Zukunft blicken: Die EU könne auseinanderbrechen. „Die Fliehkräfte der Krisen treiben uns auseinander, anstatt uns enger aneinander zu binden“, hat der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, neulich in Rom gesagt.
Vielen Briten, genauer: vielen Engländern ist eine engere Bindung das Letzte, was sie wollen (dabei müssen sie ja eine „immer engere Union“ gar nicht mehr eingehen). Wenn die Wähler am 23. Juni darüber abstimmen, ob das Land Mitglied der EU bleiben oder fortan sein Glück außerhalb der EU suchen soll, dann wird es mutmaßlich einen knappen Ausgang geben.
Die beiden Lager liegen nahe beieinander. In den Umfragen haben mal die Gegner und mal die Befürworter eines „Brexit“ die Nase vorn; rund 15 Prozent der Wahlberechtigten sind noch unentschieden. Die Prognosen, die im Falle eines Austritts aus der EU erhebliche Wohlfahrtsverluste vorhersagen, richten sich in erster Linie an diese Unentschiedenen.
Brexit-Abstimmung : Thema Einwanderung spaltet die Briten
Auf den nationalen Geschmack kommen
Was aber wäre, wenn es dennoch eine Mehrheit für den „Brexit“ gäbe? Wenn die Sorge vor den erwarteten wirtschaftlichen Kosten den Wunsch nach nationaler Souveränität, was immer das in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts faktisch noch bedeuten würde, eben nicht trumpft? Drohte dann der Zerfall der EU? Es wäre ein Ereignis, das gewiss den Beifall der Populisten und der Rechtsextremen finden würde und dessen Weiterungen nicht abzusehen wäre.
Einmal davon abgesehen, dass Wähler auch in weiteren Mitgliedsländern auf den nationalen Geschmack kommen könnten: Die EU wäre auf Jahre erst mit der Abwicklung und dann mit der Formalisierung neuer Beziehungen zu Großbritannien beschäftigt, ihre Energien wären gebunden. Was wäre außen- und sicherheitspolitisch von einer EU zu erwarten, die einen großen Schock und einen Bruch ihrer Geschichte zu verarbeiten hätte? Vermutlich nicht sehr viel.
Das ist auch ein Grund, warum der amerikanische Präsident Obama neulich vehement für ein starkes und geeintes Europa geworben hat. Der britische Premierminister Cameron jedenfalls hat seinen Landsleuten schon mal einen Kostenposten vorgehalten: Im Falle eines Brexit würden die Sicherheitsrisiken zunehmen. Die Mitgliedschaft in der EU sei für die Sicherheit Großbritanniens unverzichtbar. Wie viele Wähler werden sich davon beeindrucken lassen? In einem Affekt gerührter Erinnerung an die Gründerzeit werden die Briten gewiss nicht zur Abstimmung gehen. Als Staaten sich aus „freier Entscheidung für das Gemeinwohl zusammenschlossen“ (Papst Franziskus), war Britannien nicht dabei.