Volkskammerwahl vor 25 Jahren : „Es ist Frühling, und wir sind so frei“
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Lothar de Maizière als Wahlsieger der Ost-CDU am Abend der ersten freien Volkskammerwahl. Bild: Barbara Klemm
Enthusiastisch zogen viele DDR-Bürger zu Beginn des Jahres 1990 in den ersten freien Wahlkampf. Die politischen Bewegungen, die den Sturz des SED-Regimes im Wendeherbst 1989 einleiteten, gingen dabei leer aus.
Als am Abend die Stimmen gezählt und die Ergebnisse der ersten freien Volkskammerwahl auf dem Boden der DDR verkündet waren, da richtete sich staunende Blicke vor allem auf die Verlierer, nicht auf die Sieger. Denn die Bürgerrechtler und Dissidenten, die Umweltgruppen und Friedenskreise, die mit ihrem friedlichen Protest den Umsturz in der DDR begonnen hatten – sie waren von den Wählern an die Seite gestellt worden: „2,9 Prozent“ lautete das Ergebnis für „Bündnis 90“, jene Sammelpartei, in der sich „Demokratie jetzt“ und das „Neue Forum“ zusammengeschlossen hatten.
Das Neue Forum war im vorangegangenen Protestherbst spontan zur Massenorganisation angewachsen, mehrere 10000 Mitglieder traten ein, viele unter ihnen, die zuvor jahrzehntelang eine Mitgliedschaft in den sozialistisch gelenkten Massengruppierungen mutwillig vermieden hatten. Doch als der Wahlkampf im Winter begann, als CDU und SPD ihren ostdeutschen Schwesterparteien mit Slogans, Technik und Plakaten halfen, als die Wahlkampftreffen sich aus den Kirchen heraus auf die Marktplätze verlagerten, da spürten die Anführer der DDR-Opposition schon, dass ihre Gefolgschaft kleiner wurde. Nach dem Mauerfall am 9. November, also rund vier Monate vor der Volkskammerwahl, waren D-Mark-Währungsunion und Vereinigung zu den zentralen politischen Themen geworden. Schlagworte wie „demokratischer Sozialismus“ oder „Selbstbestimmung“, die ein halbes Jahr zuvor noch provokative Waffen im Munde von Oppositionellen waren, wurden nun als hinhaltende Verteidigungsinstrumente von den Repräsentanten des alten Systems gebraucht.
CDU kam auf 40 Prozent und wurde stärkste Partei
Am 18. März, dem Wahltag, entließen die Kinder ihre Revolution. Das Parteienbündnis um die CDU erreichte 48 Prozent der Stimmen; die CDU allein, die als DDR-Blockpartei doch immerhin auch ein Träger des staatssozialistischen Systems gewesen war, bekam mehr als 40 Prozent – und war damit so deutlich zur stärksten Partei geworden, dass ihrem eher unscheinbar wirkenden Vorsitzenden Lothar de Maizière anschließend fast zwangsläufig das Amt des ersten frei gewählten Ministerpräsidenten der DDR zukam.
Weil in den Monaten vor der Volkskammerwahl doch die Sorge bestanden hatte, die DDR-Wähler würden nicht nur die zur PDS gewendete Staatspartei SED missachten, sondern auch die anderen Hilfsparteien des alten Regimes unglaubwürdig finden, hatte der Generalsekretär der westdeutschen CDU, Volker Rühe, die ostdeutsche Schwesterpartei mit zwei neuen DDR-Gruppierungen in ein Bündnis gezwungen: „Demokratischer Aufbruch“ und „Deutsche Soziale Union“ hießen die beiden heterogenen Klein-Parteien, deren Personal in den wenigen Monaten bis zum Beitritt der DDR noch viel Wirbel verursachen sollte.
Beim Demokratischen Aufbruch (DA) platzte die größte Bombe sogar vor dem Wahltag: Wolfgang Schnur, der Vorsitzende dieser christlich-bürgerlichen Oppositionsgruppe, der als großes politisches Talent und als möglicher Ministerpräsident einer neuen DDR-Regierung für die Zeit nach der freien Wahl galt, wurde wenige Tage vor dem 18. März als Inoffizieller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes enttarnt. Die Umfragewerte für den DA stürzten in die Tiefe, Schnur verschwand und ließ seine Pressesprecherin Angela Merkel fassungslos zurück.
Die „Deutsche Soziale Union“ und ihr bayerisches Vorbild
Die andere neugegründete Gruppe, die der Allianz für Deutschland Farbe und Unbeschwertheit leihen sollte, die „Deutsche Soziale Union“ (DSU), modellierte nicht nur ihren Namen samt Schriftzug am Beispiel der bayerischen Regierungspartei, sondern auch ihr Programm, und gelegentlich sogar die Regierungspraxis von allerhand abrupten Wendungen. Immer wieder stürzte die DSU die Sitzungen der freien Volkskammer in den folgenden Monaten in Aufregung und Chaos, indem sie den sofortigen Beitritt zur Bundesrepublik beantragte. Und die beiden Minister der DSU verließen nach drei Monaten ihre Partei, blieben aber auf ihren Ministersesseln in de Maizières Regierung.
Die SPD hingegen, die vor der Wahl auch davon geträumt hatte, anschließend als deren Sieger ausgerufen zu werden, zog eher zähneknirschend als kleiner Partner (sie erhielt mehr als 21 Prozent der Stimmen) in die möglichst große Koalition, mit der de Maizière ab März für eine Übergangszeit regieren und die Beitrittsbdingungen mit der Bundesrepublik aushandeln wollte. Auch die SPD beutelte ein prominenter Stasi-Fall: Die Akte ihres Vorsitzenden Ibrahim Böhme wurde allerdings erst wenige Tage nach dem 18. März publik. Die DDR-Sozialdemokraten hielten bis in den August zum Regierungsbündnis de Maizières, über den Abschluss des Vertrages zur Wirtschafts- und Währungsunion hinaus, der im Juli die Einführung der D-Mark in Ostdeutschland regelte.
Dann verließen die DDR-Sozialdemokraten um Markus Meckel und Wolfgang Thierse die Koalition – über den letzten Wochen der letzten DDR-Regierung stand schon der Schatten der nächsten Wahl: der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl im Dezember des Jahres 1990. Für die DDR-Bürger, die zu Beginn des Jahres enthusiastisch, verzagt oder ungelenk in einen freien Wahlkampf aufgebrochen waren („Es ist Frühling, und wir sind so frei“, hatte ein Slogan der Liberaldemokraten gelautet), blieb die Erfahrung eine Episode. Die folgenden Wahlkampagnen wurden schon vollständig von den westdeutschen Parteizentralen der etablierten Parteien gesteuert. Die PDS war mit einem Mal die einzige übrig gebliebene „Ostpartei“ – ein Markenzeichen, das ihr in den kommenden Jahren stärker nützen sollte als ihr sozialistisches Parteiprogramm.