Erdogans Anhänger : Die Wahl der Türken
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Bietet der Autokrat Erdogan den Deutschtürken eine – für sie – attraktive Leitkultur? Bild: Reuters
Erdogan hat nicht das Recht, hierzulande Hof zu halten. Doch sein autoritärer Stil bietet vielen Deutschtürken eine attraktive Leitkultur. Das hat auch mit Fehlern der deutschen Politik zu tun.
Recht plötzlich hat die Bundesregierung verkündet, ein türkischer Wahlkampf habe in Deutschland nichts verloren. Dabei machen türkische Politiker schon viele Jahre hierzulande genau das: Sie spannen ihre Landsleute (oder wen sie dafür halten) für ihre Zwecke ein. Als Erdogan 2008 in Köln vor Tausenden Anhängern sprach, ging dem Auftritt ein fürchterliches Brandunglück in Ludwigshafen voraus. Der damalige Ministerpräsident verstieg sich nicht nur zu der Aussage, dass „die türkische Gemeinschaft und der türkische Mensch, wohin sie auch immer gehen mögen, nur Liebe, Freundschaft, Ruhe und Geborgenheit mit sich“ brächten. Er sagte nicht nur, Assimilation sei ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Er fragte auch: „Warum sollten wir nicht auch in Deutschland, in den Niederlanden, in Belgien, in den anderen Ländern Europas Bürgermeister haben? Warum sollten wir keine Vertreter und Gruppen in den politischen Parteien haben?“
Schon damals musste man fragen: Was heißt „wir“? Natürlich muss niemand seine Herkunft verleugnen, sich von seinen Traditionen verabschieden. Aber er ist entweder Gast in einem anderen Land, oder er ist Staatsbürger, mit allen Rechten und mit allen Pflichten. Es war ein Grundfehler, ausgerechnet aus Gründen der Integration die doppelte Staatsangehörigkeit einzuführen. Das rechtliche Band zum Staat sollte vielmehr ein Schlusspunkt der Integration sein. Jahrzehntelange Versäumnisse gerade auch des deutschen Gemeinwesens, aber auch der fehlende Wille vieler früherer Gastarbeiter, sich hier einzufügen, können nicht auf die Schnelle und dann noch mit Mitteln des Staatsangehörigkeitsrechts wettgemacht werden. Aber die großzügige Verleihung und Duldung mehrerer Staatsangehörigkeiten sind vor allem dann fatal, wenn im Heimatland ein Regime herrscht, das seine (früheren) Bürger niemals loslässt und in ihnen überall eine politische Manövriermasse sieht.
Die Folgen deutscher Volks- und Staatsvergessenheit sind gewaltig, und sie können sich in Gewalt entladen. Der sich immer autoritärer gebärdende Erdogan bietet offenbar für manche eine wesentlich attraktivere Leitkultur an als ein Land, das vor allem für alle und alles offen sein will. Die jetzt aufgeschreckten Politiker in Deutschland und anderswo hätten viel früher deutlich machen müssen, dass türkische Amtsträger (nur) als Gäste willkommen sind. Dazu gehört, dass sie Deutschtürken nicht agitieren und hier niemanden ausforschen oder bedrohen lassen dürfen.
Keine Frage der Meinungsfreiheit
Auch heute kann nicht genug hervorgehoben werden, dass natürlich Türken wie Deutsche hier ihre Meinung sagen dürfen, dass die Versammlungsfreiheit mit vollem Recht großzügig ausgelegt wird. Aber deshalb darf nicht einfach ein ausländischer Minister, ein Regierungschef oder gar ein Staatsoberhaupt, sich in offizieller Funktion hier in das politische Geschehen einmischen. Nicht der Präsident kann sich auf Grundrechte berufen; nein, vielmehr haben die Türken Grundrechte gegenüber Erdogan, denn der hat die Macht. Darauf muss Europa erst recht achten, sollte die neue Präsidialverfassung in der Türkei in Kraft treten.
Diplomatische Krise : EU und Türkei – Ein brüchiges Verhältnis?
Sowenig wie Angela Merkel einen Anspruch darauf hat, nach Belieben in den Vereinigten Staaten als Kanzlerin aufzutreten, so wenig haben Trump oder Erdogan das Recht, hierzulande wie zu Hause Hof zu halten. Das heißt nicht, dass man sich nicht großzügig zeigen kann. Erdogan vertritt immerhin ein altes, treues Nato-Land, das sich in der Flüchtlingskrise als zuverlässig erwiesen hat. Doch wie empfindlich er ist, zeigt das Trauerspiel, das sich um Besuche von Bundestagsabgeordneten bei deutschen Nato-Soldaten in der Türkei regelmäßig wiederholt.
Die Deutschtürken müssen sich entscheiden
Doch entscheidend ist in diesen Tagen etwas anderes: Die Türkei driftet ab. Mit ihren Säuberungen und Massenverhaftungen, die nicht zuletzt Justiz und Medien betreffen, bewegt sich die Regierung immer weiter weg von den europäischen Standards. Die Menschenrechtskonvention gilt längst in der Türkei, ganz unabhängig von einer EU-Mitgliedschaft. Und jetzt soll, auch formal, ein System installiert werden, das ganz auf eine Person zugeschnitten ist und jeder Gewaltenteilung Hohn spricht.
Darüber darf sich jeder ein Bild machen. Aber dafür muss Deutschland nicht werben. Es gilt die souveräne Gleichheit der Staaten. Diplomatische Beziehungen enden sogar im Kriegsfall nicht automatisch. Aber für „Gegenmaßnahmen“ der Türkei ist ohnehin kein Raum, solange Deutschland und die Niederlande sich rechtmäßig verhalten. Gegenseitiger Respekt schließt die Achtung der inneren Angelegenheiten anderer Staaten ein; aber natürlich ist Kritik erlaubt, wenn der gemeinsam vereinbarte Wertekonsens verlassen wird.
Es gehört zu diesem Konsens, dass die politische Betätigung von Ausländern generell beschränkt werden kann – Präsident Erdogan hat erst recht keinen Anspruch darauf, im freien Europa Wahlkampf für ein die Freiheit minimierendes System zu machen und seine „Landsleute“ dafür in Anspruch zu nehmen. Die Deutschen mit türkischen Wurzeln und auch die Türken sollten das am besten verstehen. Sie müssen gar keinem Herrn dienen, sich aber wohl entscheiden: für ein freiheitliches Land – oder dagegen.