Umfrage für die F.A.Z. zur Atomkraft : Eine atemraubende Wende
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Der Anteil der vehementen Atomkraftgegner ist seit Fukushima sprunghaft gestiegen Bild: dapd
Seit der Katastrophe von Fukushima wenden sich immer mehr Deutsche von der Atomkraft ab: Der Anteil der vehementen Atomkraft-Gegner stieg in Westdeutschland von etwa 26 auf nun 42 Prozent, in Ostdeutschland auf 29 Prozent.
Mit geradezu atemberaubendem Tempo hat die schwarz-gelbe Koalition unter dem Eindruck von Fukushima und den teils antizipierten, teils faktischen Auswirkungen dieses Ereignisses auf die parteipolitischen Präferenzen eine energiepolitische Kehrtwende vollzogen. Mit der unmittelbaren Stilllegung von sieben Reaktoren und dem Beschluss, den Ausstieg aus der Kernenergie zu forcieren, reagierte die Koalition diesmal völlig anders als die Koalition derselben Couleur 1986 nach Tschernobyl. Dies lässt sich nicht allein mit im Vergleich zu damals veränderten energiepolitischen Optionen, insbesondere der heute deutlich höheren Bedeutung regenerativer Energien, erklären, denn die Optionen sahen im vergangenen Jahr nicht anders aus, als die Koalition mit Überzeugung die Laufzeitverlängerung durchsetzte. Es ist primär eine Neubewertung von Risiken, und zwar nicht nur der Risiken der Kernenergie selbst, sondern der angenommenen politischen Risiken, die sich aus der gesellschaftlichen Akzeptanz der Kernenergie und des bisherigen energiepolitischen Kurses der Regierung ergeben.
In diesem Zusammenhang ist die Frage interessant, wieweit der gesellschaftliche Druck heute tatsächlich wesentlich größer ist als vor fünfundzwanzig Jahren unter dem Eindruck von Tschernobyl. Vergleicht man die Reaktionen der Bevölkerung auf Fukushima mit den Reaktionen nach Tschernobyl, so gibt es einige bemerkenswerte Unterschiede. Ängste, das Gefühl, persönlich gefährdet zu sein, waren nach Tschernobyl aufgrund der räumlichen Nähe weitaus verbreiteter als diesmal. Da 1986 noch keine Befragungen in Ostdeutschland durchgeführt werden konnten, stützt sich der Vergleich auf die Reaktionen der westdeutschen Bevölkerung. Nach Tschernobyl fühlten sich 58 Prozent der westdeutschen Bevölkerung persönlich stark bedroht, diesmal 38 Prozent, in Ostdeutschland 35 Prozent.
Die Tendenz, das aus der Ferne beobachtete Risiko auf ein potentielles Risiko im Nahbereich zu übertragen, ist diesmal größer, aber nicht völlig anders als damals. 1986 waren 52 Prozent der westdeutschen Bevölkerung überzeugt, dass sich ein Reaktorunfall wie in Tschernobyl auch in Deutschland ereignen könne, diesmal halten 59 Prozent eine Havarie wie in Fukushima auch im Nahbereich für möglich; 27 Prozent halten dies für unwahrscheinlich, 1986 30 Prozent. Die Einschätzung, wie wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ein solches Ereignis im Nahbereich ist, wurde damals allerdings durch ein höheres Zutrauen in die deutsche Technologie und Sicherheitskultur beeinflusst.
Die Zweifel an den Sicherheitsstandards und -maßnahmen in deutschen Reaktoren sind zurzeit weitaus größer als unmittelbar nach Tschernobyl. Damals bezweifelten 38 Prozent der westdeutschen Bevölkerung, dass die Sicherheitsvorkehrungen in deutschen Reaktoren ausreichen, heute 59 Prozent. Dazu hat auch die spektakuläre Stilllegung der sieben Reaktoren beigetragen, die sich ja nur mit einer veränderten Bewertung ihrer Risiken begründen lässt. Die politischen Reaktionen haben diesmal die Auswirkungen des Ereignisses selbst auf die öffentliche Meinung erheblich verstärkt, anders als 1986, als die damalige Regierung angesichts von Tschernobyl auch mit dem Argument der Sicherheitsstandards deutscher Reaktoren die Kernenergie verteidigte.
Tschernobyl änderte an dieser Einschätzung nichts