Risikoforscher Gerd Gigerenzer : „Jedes Volk hat seine eigenen Ängste“
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Forscher Gerd Gigerenzer: „Wir überschätzen die Gefährung durch spektakuläre Katastrophen und unterschätzen die alltäglichen Desaster” Bild: Julia Zimmermann
Die deutsche Furcht vor dem Atom: Darüber spricht der Risikoforscher Gerd Gigerenzer mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung - und über brennende Weihnachtsbäume und das kompetente Bauchgefühl.
Herr Gerd Gigerenzer, wenn die Bundeskanzlerin Angela Merkel an Stelle einer Ethikkommission Sie als Risikoforscher befragt hätte: Was hätten Sie dann empfohlen?
Ich hätte ihr sicher nicht die Entscheidung abgenommen, ob sie die Kraftwerke abschalten oder am Netz lassen soll. Aber ich hätte ihr sagen können, wie wir die Menschen im Umgang mit Risiken kompetenter machen.
Da hapert es?
Der Fukushima-Vorfall wird das gleiche Schicksal erleiden wie vorher die Finanzkrise, die Schweinegrippe oder jetzt die Ehec-Infektion. Diese Themen haben ein paar Monate Konjunktur, dann sind sie wieder vergessen. Aber wir lernen kaum etwas daraus – außer, dass wir für kurze Zeit sehr aufgeregt sind.
Wenn in den nächsten Wochen das Ausstiegsgesetz beschlossen wird, dann bleibt es doch bei der Kurskorrektur?
Das nehme ich an. Diesmal war ich schon überrascht, wie schnell die Parteien auf die Ängste des Volkes gehört haben. Das ist ja nicht immer so. Bei BSE zum Beispiel lautete die Botschaft lange, dass wir uns nicht zu sorgen brauchen - weil wir anders als die Engländer wissen, wie man mit Rindern umgeht. Da hatte man die Illusion von Sicherheit.
Sind die Deutschen ängstlicher als andere?
Wir fürchten uns mehr als andere vor Strahlen, während wir uns um die Opfer der Erdbeben weniger scheren. Strahlenangst betrifft nicht nur die Atomkraftwerke. Bei uns überlegt man sich genau, ob man zu einer Röntgenuntersuchung geht. In den Vereinigten Staaten werden dagegen jedes Jahr 70 Millionen Computertomografien gemacht, obwohl viele davon überflüssig sind. Man schätzt, dass davon 29.000 Menschen Krebs bekommen.
Woher kommt diese Angst vor Strahlen?
Solche Ängste werden nicht so sehr durch schlechte Erfahrungen gelernt, sonst müssten sich die Japaner besonders stark vor Strahlen fürchten. Sie werden sozial gelernt. Wir übernehmen die Ängste der Bezugsgruppe, in der wir uns bewegen.
Ist das nicht furchtbar unvernünftig?
Es ist durchaus rational, nicht alle Gefahren selbst zu testen. Oder wollen Sie den Fliegenpilz selbst essen, damit Sie glauben, dass er giftig ist?
Machen Strahlen oder Krankheitserreger so viel Angst, weil man sie nicht sieht?
Der Punkt ist ein anderer. Die Leute haben weniger Angst vor dem individuellen Tod. Dagegen fürchten sie besonders solche Situationen, in denen viele Menschen auf einmal sterben können. Wir überschätzen die Gefährdung durch spektakuläre Katastrophen und unterschätzen die ganz alltäglichen Desaster. Diese Angst vor Katastrophen war früher einmal rational, als die Menschen in Kleingruppen existierten – und der plötzliche Tod eines großen Teils dieser Gruppe das Überleben der anderen gefährden konnte.
Warum schafft es die Evolution nicht, solche heute unangemessenen Urängste zu überwinden?
Die Evolution ist langsam. Aber wir haben ja noch unser Großhirn, mit dem wir unsere Ängste reflektieren können. Wir müssen den Menschen erklären, wie sie funktionieren, und sie im Umgang mit Risiken kompetenter machen. In der Schule lernen wir noch immer eine Mathematik der Sicherheit, die klassische Algebra zum Beispiel. Die Mathematik der Unsicherheit kommt so gut wie nicht vor.
War die deutsche Reaktion auf Fukushima denn angemessen?
Die Deutschen haben ziemlich anders reagiert als der Rest der Welt, mit Ausnahme der Griechen und der Österreicher. Viel nervöser. Aber das führt dann immerhin dazu, dass wir Vorreiter sind bei den erneuerbaren Energien. So gesehen hat die Angst auch ihr Gutes.
Sind andere Völker vernünftiger als wir?
Sie haben andere Ängste. Wir in Deutschland zum Beispiel mögen an Weihnachten gerne brennende Wachskerzen am Christbaum. Meine Frau ist Amerikanerin. Sie empfindet das als lebensgefährlich. Also haben wir uns darauf geeinigt, dass ich die Kerzen anzünde und sie einen Eimer Wasser daneben stellt. Andererseits legt ein amerikanischer Freund unter seinen elektrisch beleuchteten Baum ein Gewehr als Geschenk für seinen Sohn. Das würde mir Sorge bereiten.
Sie können Ihrer Frau nicht einfach sagen, dass Wohnungsbrände durch Weihnachtskerzen relativ selten sind?
Das wäre schlechte Risikokommunikation. Man darf den Menschen niemals sagen, dass ihre Angst unbegründet ist. Man muss ihnen sagen, was gegen das Risiko zu tun ist. Deshalb der Eimer Wasser. Das beruhigt.