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Steinmeier in Polen : Die Rede des Bundespräsidenten im Wortlaut

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Die Versöhnung ist eine Gnade, die wir Deutsche nicht verlangen konnten, aber der wir gerecht werden wollen. Daran, an unserer Verantwortung, sollt Ihr uns messen.

Unsere Verantwortung – sie gilt Europa!

Das vereinte Europa ist die rettende Idee. Es ist die Lehre aus Jahrhunderten von Krieg und Verwüstung, von Feindschaft und Hass.

Ja, dieses Europa hat das Schlechteste des Menschen gesehen und dennoch, von Neuem, auf sein Bestes gesetzt.

Das vereinte Europa setzt auf die Kraft von Humanismus und Aufklärung, auf Freiheit und Recht, auf den Reichtum seiner Sprachen und Kulturen. Dieses Europa ist und bleibt ein Projekt der Hoffnung.

Ich weiß wohl, mein Land trägt für dieses Europa eine besondere Verantwortung. Weil Deutschland – trotz seiner Geschichte – zu neuer Stärke in Europa wachsen durfte, deshalb müssen wir Deutsche mehr tun für Europa. Wir müssen mehr beitragen für die Sicherheit Europas. Wir müssen mehr einbringen für den Wohlstand Europas. Wir müssen mehr zuhören für den Zusammenhalt Europas.

Diese Verantwortung wollen wir Deutsche annehmen. Wir wollen dies mit Demut tun. Vor dem Spiegel unserer Geschichte haben wir Deutsche allen Grund, die glücklichsten Europäer zu sein. Aber wir haben keinerlei Grund, uns für die besseren Europäer zu halten.

Unsere Verantwortung, sie gilt auch der transatlantischen Partnerschaft. Wir alle blicken an diesem Jahrestag mit Dankbarkeit auf Amerika. Die Macht seiner Armeen hat – gemeinsam mit den Verbündeten im Westen und im Osten – den Nationalsozialismus niedergerungen. Und die Macht von Amerikas Ideen und Werten, seine Weitsicht, seine Großzügigkeit haben diesem Kontinent eine andere, eine bessere Zukunft eröffnet.

Herr Vizepräsident, das ist die Größe Amerikas, die wir Europäer bewundern und der wir verbunden sind. Dieses Amerika hat der Welt die Augen geöffnet für die unbändige Kraft der Freiheit und der Demokratie – gerade auch uns Deutschen. Diesem Amerika war das vereinte Europa immer ein Anliegen. Dieses Amerika wollte echte Partnerschaft und Freundschaft in gegenseitigem Respekt.

Vieles davon scheint heute nicht mehr selbstverständlich. Deshalb: Lasst uns nicht vergessen, was uns stark gemacht hat – diesseits und jenseits des Atlantiks! Lasst uns das Gemeinsame bewahren in dieser Welt voller Veränderung und schwindender Gewissheiten!

Wir wissen wohl: Europa muss stärker und selbstbewusster werden. Aber wir wissen auch: Europa soll nicht stark sein ohne Amerika – oder gar gegen Amerika. Sondern Europa braucht Partner. Und ich bin sicher, auch Amerika braucht Partner in dieser Welt. Also lasst uns diese Partnerschaft pflegen! Lasst uns den Anspruch bewahren, dass der Westen mehr ist als eine Himmelsrichtung!

Unsere Verantwortung, sie bedeutet für uns Deutsche auch dies: Nie wieder Nationalismus!

Nie wieder dürfen Deutsche rufen: "Deutschland, Deutschland über alles!" Nie wieder sollen Nationen sich über andere Nationen erheben – Menschen über andere Menschen, Rassen über andere Rassen. Nie wieder soll die Vernunft verloren gehen. Nie wieder sollen Hass und Selbstsucht entfesselt werden im Zusammenleben der Völker.

Unsere Väter und Mütter haben aus der Geschichte gelernt. Über den Gräbern der Toten haben sie einander die Hand zur Versöhnung gereicht. Gemeinsam haben sie einen neuen Weg in die Zukunft gefunden – den Weg der guten Nachbarschaft, den Weg der Zusammenarbeit, mit Regeln für den Frieden, mit verbrieften Rechten für alle Menschen. Liebe Partner, liebe Freunde, den Geist der Versöhnung wollen wir bewahren! Den Weg der Gemeinsamkeit müssen wir weitergehen!

Als deutscher Gast trete ich barfuß vor Sie auf diesen Platz. Ich blicke in Dankbarkeit auf den Freiheitskampf des polnischen Volkes. Ich verneige mich in Trauer vor dem Leid der Opfer.

Ich bitte um Vergebung für Deutschlands historische Schuld. Ich bekenne mich zu unserer bleibenden Verantwortung.

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