Theodor-Heuss-Preis für Cohn-Bendit : Dany im Kinderladen
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In den Sechziger Jahren war Cohn-Bendit Schüler an der Odenwaldschule in Oberhambach. Links neben dem Grünen-Politiker ist sein damaliger Lehrer Ernest Jouhy zu sehen. Bild: Archiv
Daniel Cohn-Bendit macht sich nichts vor - er weiß, dass ihn viele Leute hassen. Bei der Verleihung des Theodor-Heuss-Preises bricht er in Tränen aus, während draußen gegen die Preisverleihung protestiert wird.
Er weint. Daniel Cohn-Bendit steht vor 400 Gästen im weißen Saal des Neuen Schlosses und weint. Er erwähnt seine Eltern, die gestorben sind vor vielen Jahren, als er sich für den Theodor-Heuss-Preis bedanken will. Erst schluchzt er, wendet sich ab, versucht nochmals weiter zu reden - und dann versagt ihm endgültig die Stimme. Seine Stimme ist sein ein und alles, sie trägt seine Worte, die scharfen Angriffe auf die Verhältnisse oder den politischen Gegner. Daniel Cohn-Bendit ist allein. Beifall brandet auf, die Zuschauer stellen sich sofort hinter ihn.
Es ist der weiche, der moralische Dany, der gerade auftritt. Das hilft ihm sehr. Denn nach den vielen scharfen und harten Angriffen auf ihn, die gerade von jedem Festredner zitiert wurden, hat er jetzt alle auf seiner Seite. Es gibt auch noch zwei andere Cohn-Bendits: den Wutbürger Dany und den hellsichtigen Analytiker. Um zu verstehen, warum Cohn-Bendit bei einer Preisverleihung auf der Bühne zu weinen beginnt, muss man eine Geschichte erzählen, die lange zurück liegt, aber nicht vergehen will.
Cohn-Bendit ist einer der wichtigen europäischen Demokraten. Wenn er demnächst seinen 68. Geburtstag feiert, dann kommt vielleicht Bob Dylan. Und wenn er im Europäischen Parlament den französischen Präsidenten befragt, dann schreibt Monsieur Hollande mit wie ein Schulbub, was er ihm zu sagen hat: Daniel Cohn-Bendit, der paneuropäische Grüne, Pazifist und Bellizist, ein begnadeter Provokateur und zugleich Moralist, ein Mann für Talkshows, einer, „der einfach ein großes Maul hat“, wie eine enge Freundin sagt.
Nur in einem Fall tritt der Barrikadenbauer von 1968, Dany le Rouge, in der ungewohnten Rolle des Dany resèrvé auf, des zurückhaltenden, schweigsamen Cohn-Bendit: In den Siebzigern arbeitete er in einem Kinderladen der Uni Frankfurt. Und er entwickelte damals nicht nur ein Feingefühl dafür, wie man die Kleinen verstehen und lesen kann, sondern auch, wie verführerisch es dort angeblich zugeht: im Umgang mit Vier- bis Sechsjährigen. Die Stellen sind altbekannt, aber immer noch atemberaubend - und in der Substanz unbeantwortet.
Cohn-Bendit mag das Konzept der sexuellen Befreiung
„Mein ständiger Flirt mit den Kindern nahm erotische Züge an“, beschrieb Cohn-Bendit seine Erfahrungen in dem Kinderladen. „Es ist mir mehrmals passiert, dass einige Kinder meinen Hosenlatz geöffnet und angefangen haben, mich zu streicheln. Das stellte mich vor Probleme“, fuhr er fort. „Aber wenn sie darauf bestanden, habe ich sie dennoch gestreichelt.“
Das Buch, in dem das steht, „Der große Basar“, ist kein Schulmädchenreport für Kinderläden, sondern ein programmatisches Frühwerk Cohn-Bendits. Er räsoniert über die politische Arbeit, die Aufgabe des Revolutionärs und was der in einem Kinderladen eigentlich lernen könnte.
Der Endzwanziger, der damals in dem von Eltern getragenen Kindergarten anheuert, ist kein Pädagoge. Dennoch beobachtet er die Kinder sehr genau, er entwickelt ein Gespür für sein Charisma - und er steht voll hinter dem Konzept der sexuellen Befreiung. „Die Kommunebewegung war mit der antiautoritären Kinderladenbewegung verbunden“, schreibt er und schildert, dass es nicht um Freud geht, sondern um Wilhelm Reich. „Weil er den Kampf für die Sexualität verkörpert, vor allem für die Sexualität der Jugendlichen.“
Am Anfang der Rede noch gefasst
Damals war das ein gängiges Konstrukt. Man kam aus der Prüderie der Erziehungskunst einer Johanna Haarer, die ihr aus der Nazizeit stammendes Buch „Die deutsche Mutter und ihr Kind“ einfach um ein paar „Adolf Hitler“ bereinigte. Da wurde nicht aufgeklärt, sondern abgebunden. Die Achtundsechziger gingen mit Wilhelm Reich dagegen an - nach dem Motto: Aus verklemmten Menschen werden repressive Charaktere, also befreit die Sexualität, am besten die der Kinder.
Heute hasst Cohn-Bendit die Passagen, und auch ein bisschen die, die ihn damit konfrontieren. „Ich habe keinen Bock mehr, mich wegen dieser alten Sache immer wieder rechtfertigen zu müssen“, sagte er kürzlich der Stuttgarter Zeitung. Manchmal lässt er Journalisten ausrichten, sie sollten selber recherchieren. Manchmal vertröstet er sie. „Um das festzuhalten, ich bin bereit in der Woche nach der Preisverleihung mit ihnen ein Gespräch zu führen!“, lautete die Antwort auf eine Interviewanfrage.
Cohn-Bendit mag nicht gern Politiker sein. Auf die Passage im Großen Basar antwortet er so gestochen scharf und zugleich verschwommen, wie es nur ein Politiker tun kann. Der Text ist eine Provokation („Zeit“ 2010), ein unsinniger Text „über meine Erfahrungen als Erzieher“ („Spiegel“ 2012) oder eine Geschichte, „die mich immer wieder einholt“. („taz“ 2013) Enge Freunde berichten, „er leidet unter den immer wieder erhobenen Anschuldigungen“.
Dass er leidet, merkt man bei der Preisverleihung. Am Tag, bevor Cohn-Bendit seinen Preis für neue Wege in der Demokratie bekommen hat, tritt durch einen Vorbericht dieser Zeitung zutage, dass das wichtigste Dokument seiner Verteidigung in Wahrheit nicht viel wert ist. „Da bin ich richtig sauer. Bevor ich anfange“, sagt er zu Beginn noch ganz gefasst, „muss ich zwei Sachen vorausschicken.“
Also erzählt Cohn-Bendit zuerst mal jüdische Witze. Und dann kommt er zur Sache, „damit ihr das ein für allemal wisst: Kritisiert mich für das, was ich geschrieben habe - bis zu meinem Tod, aber jagt mich nicht für etwas, was ich nicht getan habe.“ Er meint damit seinen Text im „Großen Basar“. Und er sagt: Es war eine unerträgliche Provokation - aber es gab keinen realen sexuellen Handlungen mit Kindern. Weiß man das? Woher kann man das wissen?
In der angeblich literarischen Darstellung heißt es sehr konkret: „Da hat man mich der Perversion beschuldigt“ - so fährt Cohn-Bendit fort und berichtet, wie Eltern ihn deswegen aus dem Kinderladen entfernen wollten. „Ich hatte glücklicherweise einen direkten Vertrag mit der Elternvereinigung, sonst wäre ich entlassen worden.“
Interessant ist, dass bislang offenbar niemand Cohn-Bendit danach gefragt hat, was im Kinderladen eigentlich genau passiert ist. Weder Freunde noch professionelle Frager tun das - ein Phänomen, das bei berühmten Persönlichkeiten immer wieder vorkommt. Die Frage „Was hast Du getan?“ oder „Wo haben Sie zurückgestreichelt?“ ist verpönt.
Und entsprechend elegant fallen die Antworten auch aus. „Das war kein Tatsachenbericht, sondern schlechte Literatur“, sagte er der „Zeit“. „Da hat einfach ein Korrektiv in mir nicht funktioniert“, dem „Spiegel“: „Was ich schrieb, war ein großer Fehler. Es tut mir leid.“ Und in der „taz“ geht er zum Gegenangriff über: „Man muss sich keine Illusionen machen. Es gibt Leute, die mich zutiefst hassen.“
Vorwürfe der Pädophilie sind haltlos
Und es gibt Leute, die ihn verehren. Und deswegen Fragen nach den Tatsachen gar nicht erst stellen. Was ist passiert? „Das weiß ich nicht, ich habe ihn nie gefragt, wie es dann weiter ging“, sagte ein ehemaliger Lehrer und Mitstreiter Cohn-Bendits zur F.A.S. „Ich habe das nie in dieser Form getan, nicht in dieser Intensität. Das wäre mir zu sehr auf Inkriminierung gegangen. Mich stört der moralische Furor, mit dem gegen Dany vorgegangen wird.“ Dennoch ist dem Mann heute klar: „Wenn man Avancen nicht eindeutig zurückweist, dann kann es zu schwierigen Situationen kommen. Das muss aber nicht gleich Missbrauch sein.“
Im Jahr 2001, als Klaus Kinkel und eine Boulevard-Zeitung erstmals sehr energisch fragten, was Cohn-Bendits Hosenlatz-Passagen eigentlich bedeuten, tauchte schnell ein Solidaritäts-Brief auf. Es ist bislang stets der große Persilschein für Cohn-Bendit gewesen. Selbst dessen Autoren und Unterzeichner haben aber nicht nach den realen Vorgängen von 1975 gefragt. Sie habe mit Cohn-Bendit nie darüber diskutiert, sagt etwa die Initiatorin des Briefes, Thea Vogel. [...]
Warum schrieb sie dann den Brief? „Ich war empört darüber, dass aus einem Buch, das er 1975 geschrieben hatte, 2001, also 26 Jahre nach seinem Erscheinen, eine Kampagne gegen Dany gemacht wurde, um ihn politisch zu diskreditieren. Ich fand auch die Anschuldigung gegen Dany, dass er pädophil sei, vollkommen haltlos.“
Odenwaldschule galt als demokratische Vorzeigeschule
Also setzte sich Thea Vogel hin, schrieb den Brief („Wir wissen, dass er niemals die Persönlichkeitsgrenzen unserer Kinder verletzt hat“) und bat andere Eltern, ebenfalls zu unterschreiben. Ihren eigenen Sohn konnte sie gar nicht fragen, was in der Uni-Kita Anfang der siebziger Jahre passiert ist - denn der wurde erst 1980 geboren.
Heute, noch einmal zehn Jahre später, ist ihre Haltung zu gegenseitigen Streicheleien am Hosenlatz eindeutig: Sie lehnt das vehement ab. „Ich finde das völlig unangebracht“, sagte sie der F.A.S., „ich muss als Erwachsener sagen: Stopp! Und mich nicht auf zwiespältige Handlungen einlassen.“ Sie ist überzeugt: „Das sieht Dany heute doch auch selber so.“
Wenn es denn so wäre. Aber die Stimme des Mannes, der vielen, vor allen seinen Freunden und Mitstreitern, als moralische Instanz gilt, sie wird schmerzhaft vermisst - von den Opfern sexueller Gewalt. Daniel Cohn-Bendit hat seine ursprüngliche politische Sozialisation auf der Odenwaldschule durchlaufen, jenem Internat, das heute ein Synonym für Missbrauch ist, zu seiner Zeit (1958-1965) aber als demokratische Vorzeigeschule galt. Dany war damals ein Held an dem Reforminternat. „Ich war Danys Gegenspieler im Schülerparlament“, sagt ein Mitschüler von damals - und wiegt den Kopf schweigend. Heute hat Cohn-Bendit seinen Heldenstatus gründlich eingebüßt.
„Für mich als Waisen war diese Schule die Heimat.“
„Große Klappe, offener Hosenlatz - und nichts dahinter“, ärgert sich Adrian Koerfer, ehemaliger Schüler und Opfer der sexuellen Gewalt an der Schule. „Wir neigen nicht zu Verschwörungstheorien, und Daniel Cohn-Bendit ist mit Sicherheit kein Päderast“, sagt Koerfer, „aber solidarisches politisches Engagement und empathisches Handeln sieht anders aus.
Cohn-Bendit hat sich nie um uns gekümmert, für die Opfer seiner Superschule hat er die Stimme nie erhoben.“ Und Glauben schenken ihm die ehemaligen Schüler auch nicht. Dass Cohn-Bendit die Kinder, die ihn berührten, nicht gestreichelt habe, dass das alles Fiktion sei, sehen sie ganz anders: „Diese Praxis entsprach sehr dem damaligen, insbesondere auch grünen Kinderladen-Zeitgeist!“, erklärte der Opferhilfeverein „Glasbrechen“ empört.
Der Vorwurf, dass er sich nie um die Missbrauchsopfer seiner Odenwaldschule gekümmert habe, lässt sich nicht wegreden. Er trifft Cohn-Bendit im Mark - denn es geht an dieser Stelle um seine Existenz. Mit 13 Jahren verließ er Paris, „ich weinte drei Tage lang“. In Deutschland wird der Pariser Gymnasiast Schüler des Odenwald-Internats, „die einzige Schule, die mich genommen hat“. Ein Jahr danach stirbt sein Vater, wieder drei Jahre danach „starb auch meine Mutter“ - er sagt es, ohne den Satz wirklich zu Ende zu bringen. Denn jetzt bricht er in Tränen aus. „Für mich als Waisen war diese Schule die Heimat. Als ich hörte, was hier geschehen ist, war ich entsetzt. Aber ich war gelähmt. Ich war unfähig, meine eigene Kindheit zu löschen.“
Lehrer versuchten damals Grenzüberschreitungen
Die Schüler der Odenwaldschule tun sich aber noch aus einem anderen Grund schwer mit Cohn-Bendit. Weil er den damals Herrschenden beisprang: In den Siebzigern und Achtzigern hatte dort Gerold Becker mit einem Kleeblatt pädosexueller Lehrer die Macht inne. Cohn-Bendit beteuert, nicht geahnt zu haben, was an der Schule geschah - dass den Päderasten in diesen Jahren mehr als 100 Schüler zum Opfer fielen. „Davon hatte ich keinen Schimmer“, versicherte er der F.A.S. An der Schule herrschte eine allgemein promiske Atmosphäre, das Reforminternat war ein Hort der Wilhelm Reich’schen Befreiungs-Sexologie. Lehrer mit anderen Auffassungen taten sich schwer, gegen diesen OSO-Geist anzukommen.
Einmal wollte eine Gruppe von Lehrern in der Konferenz der Odenwaldschule über das heikle Thema sprechen: das Zusammenleben an der Schule und die Sexualität. Sie verlangten deutliche Grenzziehungen zwischen Lehrern und Schülern - und auch unter den Schüler. Gerold Becker, der Schulleiter, nahm den Ball fix auf, indem er sich einen prominenten und beliebten Exschüler als Helfer einlud: Daniel Cohn-Bendit. Der kam, wie Zeitzeugen berichten, mit einem kleinen Harem weiblicher Groupies an die Schule.
Er sprach über die Sexualität Jugendlicher - in die sich Erwachsene grundsätzlich nicht regulierend einzumischen hätten. Die Becker-Fans johlten. Die Lehrer, die einen pädagogischen Diskurs beginnen wollten, sahen sich bloßgestellt. „Becker hat es gefallen, die Lehrerschaft zu spalten und gegeneinander auszuspielen“, berichtet Salman Ansari, ein Lehrer, der damals versuchte, gegen die ständigen Grenzüberschreitungen anzugehen. Ansari sagt: „Cohn-Bendit hat, ohne es zu wissen, uns das Leben an der Schule schwerer gemacht.“
Und es ist fraglich, ob sich das ändert. Die Debatte um den Missbrauch und seine zweideutigen Aussagen, so sagte Cohn-Bendit gerade einer Zeitung, sei irrational. „Und ich werde es nicht schaffen, sie zu rationalisieren.“ Wäre er dafür der Richtige?