Europa : Der Brexit: ein Dilemma auch für die Europäische Union
- -Aktualisiert am
Bild: dpa
Den zweitgrößten Mitgliedstaat und historisch engen Verbündeten Großbritannien mögen Brüssel und die Verantwortlichen in den EU-Mitgliedstaaten ziehen lassen. Aber der Diskussion über die Reform eines auf Überkonstitutionalisierung beruhenden Integrationsprozesses wird die EU-27 langfristig nicht ausweichen können.
Der Austritt Großbritanniens aus der EU hat die britische Politik in Chaos gestürzt und die Gesellschaft tief gespalten. Dieses Bild kontrastiert mit einer EU, deren Einigkeit in den Verhandlungen als endlich zurückgekehrte Handlungsfähigkeit erscheint. Dass aber die zweitgrößte EU-Volkswirtschaft und das Mutterland der parlamentarischen Demokratie die Europäische Union verlässt, hätte eigentlich Anlass zu einer kritischen Selbstreflexion sein müssen, wie es so weit hat kommen können. So ist das bisherige Ausbleiben einer solchen Selbstvergewisserung als verpasste Chance zu werten, den Brexit als das zu verstehen, was er auch ist: ein Symptom der Krise des europäischen Integrationsprozesses. Die Auseinandersetzung gründet nämlich auch in Strukturproblemen der EU, die in Großbritannien aufgrund politisch-institutioneller Eigenheiten offensichtlicher als in anderen Ländern zutage treten. Der Brexit-Prozess hätte Gelegenheit bieten können, diese Strukturprobleme gemeinsam zu lösen.
Lange Zeit hoffte die britische Seite auf bilaterale Zugeständnisse anderer Mitgliedstaaten angesichts der dort drohenden Kosten des Austritts. Ökonomisch brächte eine Eingrenzung der EU-Mitgliedschaft auf die Warenverkehrs- und/oder die Dienstleistungsfreiheit allen EU-Partnern Vorteile. Es gelang den Briten aber nicht, Zugeständnisse bei den Binnenmarktregeln auszuhandeln. In der Eurozone sind Ausnahmen von den Regeln aufgrund der Größe und der Bedeutung der Länder geläufig – etwa „weil es Frankreich ist“. Der Konsens zwischen den Regierungen der EU-27 und der Kommission, das befürchtete Rosinenpicken verhindern und eine Unteilbarkeit der vier Freiheiten von Waren, Dienstleistungen, Personen (Arbeitnehmer und Unternehmen) und Kapital zu postulieren, hielt sicherlich auch, weil die Briten ein traditionell schwieriges Mitglied sind. Zudem trennte man die Konditionen des Austritts von der Frage der künftigen Zusammenarbeit, was die Problematik der irischen Grenzen verschärfte. Jenseits von Wünschen nach einer Sonderbehandlung bei der Personenfreizügigkeit und den EU-Bürgerschaftsrechten blieben die Verhandlungsziele der britischen Regierung bis zuletzt unklar. Wie und ob die eng verzahnten Wirtschaftsprozesse und der vielseitig aufeinander angewiesene Behördenaustausch auf einen Stichtag hin entkoppelt werden können, bleibt noch immer abzuwarten. So entstand ein für die Briten schmerzhaftes Abkommen, das von Beginn an auch dem Zweck diente, potentielle Nachahmer abzuschrecken.
In Deutschland ist immer wieder die Frage aufgeworfen worden, ob auf diese Weise die nationalen Interessen gewahrt wurden. Insbesondere verschieben sich durch den Austritt Großbritanniens die Machtverhältnisse zwischen Nord- und Südländern im Ministerrat. In der Tat überrascht die geschäftsmäßige Bearbeitung des Austritts von Seiten der EU. Dabei ist der wirtschaftliche Einschnitt bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt größer, als wenn die 18 kleinsten Mitglieder die EU verließen. Diese Verluste für die EU wurden kaum diskutiert. Ebenfalls unterbelichtet blieb, dass auch die EU durch den Austrittswunsch der Briten vor ein kaum lösbares Dilemma gestellt wurde. Ließe man sich durch einen einzelnen Mitgliedstaat eine Reformdiskussion aufzwingen, schwächte dies die Legitimität des Verbunds für die anderen Mitgliedstaaten. Dieser Gefahr wurde erfolgreich begegnet. Die harte Verhandlungsführung der EU-Kommission verleiht aber der Mitgliedschaft nun faktisch einen Zwangscharakter, was gleichfalls ihrer Legitimität schadet.
Die Entscheidung, der EU beizutreten, wird kaum widerrufbar. Anders hat der Europäische Gerichtshof in seiner jüngsten Entscheidung Wightman (C-621/18) die Freiwilligkeit der Mitgliedschaft souveräner Staaten hervorgehoben, weshalb die Briten bis zuletzt einseitig vom Austritt zurücktreten dürften. Wird ein Austritt erschwert, erlangt die politische Gestaltung der Mitgliedschaft einen besonderen Stellenwert. Dies folgt aus der Analyse von Albert Hirschman zum komplementären Verhältnis zwischen „exit“ und „voice“. Über Kritik, also voice, kann man versuchen, Organisationen zu ändern. Bleibt die Mitbestimmung versagt oder erfolglos, ist Abwanderung, der Exit, eine Alternative. Die Abwanderung von Kritikern stabilisiert Organisationen, aber auch autoritäre Systeme, da sie Veränderungsdruck nimmt. In der EU ist voice jedoch schwierig. Wie stellt sich der britische Exit vor dem Hintergrund der Bedingungen der EU zur politischen Gestaltung dar?
Bekanntermaßen verhindert der schwerfällige Politikprozess der EU viele wünschenswerte Reformen. Der klassische Fall ist die europäische Agrarpolitik. Schon in den achtziger Jahren illustrierte der Politikwissenschaftler Fritz Scharpf an diesem Beispiel die Gleichzeitigkeit der Unzufriedenheit mit europäischer Politik bei mangelnder Reformfähigkeit als Politikverflechtungsfalle. Zwar sind seitdem verschiedene institutionelle Änderungen eingetreten, insbesondere in Bezug auf die Mitwirkung des Europäischen Parlaments. Doch auch mit der für den Rat notwendigen doppelten Mehrheit von 65 Prozent der Bevölkerung und 55 Prozent der Mitgliedstaaten bleibt europäische Politik vom Status quo geprägt. Mit den Erweiterungsrunden stieg gleichzeitig die Vielfalt der Mitgliedstaaten und damit die Basis für unterschiedliche politische Präferenzen auf ein bis dahin ungekanntes Maß an.
Einmal gefasste politische Beschlüsse sind in der EU schwer zu ändern. In jüngster Zeit zeigt dies die Asylpolitik. Schwerfällige Entscheidungsprozesse sollten eigentlich den Grad der Vereinheitlichung gering halten. Schließlich können in der EU anders als in Deutschland Zustimmungshindernisse kaum durch finanzielle Zuwendungen überwunden werden. Dennoch ist der Grad der Vereinheitlichung in der EU sehr hoch, in vielen Teilen tatsächlich höher als in etablierten Bundesstaaten wie Kanada oder den Vereinigten Staaten. Werden in der EU Berufsqualifikationen in der Regel EU-weit anerkannt, ist dies in den Vereinigten Staaten genauso wenig selbstverständlich, wie Studenten aus Colorado auf Gleichbehandlung mit jenen aus Kalifornien bei den Studiengebühren kalifornischer Staatsuniversitäten hoffen dürfen. Während in den Vereinigten Staaten wie auch in Kanada eine Ungleichbehandlung auf der Basis von Einwohnerschaft und gezahlten Steuern legitim ist, konnte Österreich für deutsche Medizinstudenten erst nach gut zwei Jahrzehnten und langen Auseinandersetzungen eine Begrenzung durch Quoten durchsetzen. Ist es in den Vereinigten Staaten normal, das steuerfinanzierte öffentliche Beschaffungswesen zum Wohle des eigenen „backyards“ einzusetzen, verlangt die EU von Kommunen die diskriminierungsfreie Behandlung EU-weiter Anbieter. Deshalb musste beispielsweise die Stadt Solingen kürzlich die Vergabe von Krankentransporten vor dem EuGH verteidigen. Öffentliche Aufmerksamkeit erlangte auch der Einstieg ausländischer Betreiber in den öffentlichen Personennahverkehr mit Busfahrern, denen es teils an Orts- und Sprachkenntnissen mangelte.
Fragt man, wie in einem politischen System mit vielen Entscheidungsblockaden eine so anspruchsvolle Vereinheitlichung gelingen kann, führt die Antwort zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) und dem Recht der EU-Verträge. Damit sind wir direkt beim Brexit, für den die Kritik am EuGH eine große Rolle spielte. Seit 1958 und der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft finden sich im EWG-Vertrag die Regeln über die Ausübung der vier Freiheiten sowie des Wettbewerbsrechts, die den Binnenmarkt bis heute prägen. Gedacht waren die Regeln als Auftrag zur Konkretisierung dieser Freiheiten durch die politischen Institutionen der EWG und die ursprünglichen sechs Mitgliedstaaten (Benelux, Deutschland, Frankreich, Italien). Bereits 1963/64 erlebten diese Zielbestimmungen eine Revolution. Der Europäische Gerichtshof postulierte in seinen Urteilen van Gend und Costa/Enel zunächst die Direktwirkung des Vertrags und schrieb sodann dessen Vorrang vor nationalem Recht fest.
An die Stelle der legislativen Konkretisierung des EWG-Vertrags konnte so dessen Interpretation durch den EuGH treten. Implizit bekam die damalige EWG durch Vorrang und Direktwirkung bereits eine Verfassung. Anders als nationale Verfassungen enthielt diese aber viele materielle Politikbestimmungen, wie eben die vier Freiheiten, das Wettbewerbsrecht oder, seit Maastricht, die Unionsbürgerschaft. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm hat den Begriff der Überkonstitutionalisierung geprägt, um die hieraus folgende zentrale Rolle des Europäischen Gerichtshofs für den europäischen Politikprozess zu analysieren. In seinem Buch „Europa ja, aber welches?“ kritisiert er den geringen demokratischen Gestaltungsspielraum der europäischen Politik, der aus dieser Verfassung entspringt. Lässt sich das deutsche Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen einfachgesetzlich ändern, hat das europäische Wettbewerbsrecht Verfassungsrang.
In den siebziger Jahren interpretierte der EuGH zudem die Warenverkehrsfreiheit mit den Urteilen Dassonville und Cassis de Dijon breit als Beschränkungsverbot. Die vorherige Auslegung als Diskriminierungsverbot hatte von ausländischen Anbietern verlangt, den Regeln des Mitgliedstaates zu folgen, in dem sie ökonomisch tätig sind. Unter einem Beschränkungsverbot muss sich dagegen staatliche Marktregulierung als verhältnismäßig rechtfertigen, da sie die grenzüberschreitende Ausübung der vier Freiheiten hemmt. Damit konnte in den 1980er Jahren der Binnenmarkt Fahrt aufnehmen.
Genau zu dem Zeitpunkt, als Scharpf die Eurosklerose als Folge einer europäischen Politikverflechtungsfalle interpretierte, schritt die Integration schwunghaft voran, weil sie gar nicht mehr auf vorherige Harmonisierung angewiesen war. Nur mit diesem Druck eines sich durch die EuGH-Rechtsprechung auf der Grundlage überkonstitutionalisierter EU-Verträge stetig fortentwickelnden Rechtsbestands ist überhaupt zu erklären, warum die Mitgliedstaaten beispielsweise einer so weitreichenden öffentlichen Beschaffungspolitik zustimmen. Deren Verfehlungen – ausländische Anbieter kaufen sich mit Kampfpreisen ein, können aber ihr Angebot nicht einlösen, derweil regionale Busunternehmen von Insolvenz bedroht sind – fallen schließlich der nationalen Politik und eben nicht dem EuGH oder der Kommission auf die Füße.
Dagegen läuft das in Maastricht eingeführte Subsidiaritätsgebot ins Leere, solange „kein Lebensbereich“, wie es der ehemalige EuGH-Präsident Skouris formulierte, von den als Beschränkungsverbot interpretierten Grundfreiheiten ausgenommen ist. Der britischen Premierministerin Margaret Thatcher war die durch die weite Interpretation der vier Freiheiten mögliche Liberalisierung im Binnenmarkt in den neunziger Jahren hochwillkommen. Sie befürwortete auch den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat, um den für die britische Industrie wichtigen Finanzbinnenmarkt zu realisieren. Ebenfalls im britischen Sinne lag die Liberalisierung von Telekommunikation und Elektrizität durch das europäische Wettbewerbsrecht. Die Briten befürworteten auch die Ost-Erweiterung der EU, weil sie der Meinung waren, dass es auf diesem Weg eher nicht zu einer vertieften Integration kommen könne.
Die Entscheidung der Blair-Regierung, bei der Ost-Erweiterung 2004 auf die bis zu sieben Jahre mögliche Übergangsregelung für die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu verzichten, läutete den Anfang vom Ende der britischen Mitgliedschaft ein. Das Ausmaß der Migration übertraf den von der Regierung erwarteten Zuzug von etwa 13 000 Osteuropäern im Jahr bei weitem. Bis September 2006 registrierten sich fast 500 000 EU-Bürger aus den neuen Beitrittsstaaten zur Arbeitsaufnahme in Großbritannien. Seit 2013 stellen Bürger aus den EU-Mitgliedstaaten (statt aus dem Commonwealth) die größte Gruppe der Zuwanderer. Der Anteil der ausländischen Bevölkerung wuchs von fünf Prozent 2004 auf 8,4 Prozent im Jahr 2014; 4,6 Prozent der Gesamtbevölkerung sind EU-Ausländer. In Polen wurde von der wohl größten Völkerwanderung in Friedenszeiten gesprochen. Einzelne englische Städte spürten die Veränderungen besonders, wie eine Reportage aus Boston, Lincolnshire, in dieser Zeitung zeigte. Das wenig entwickelte britische Meldewesen und ein Sozialstaat, der für den gering regulierten Arbeitsmarkt verschiedene Aufstockerleistungen wie Mietzuschüsse bereithält, führten zu einer Debatte über Ausmaß und Kosten-Nutzen der Zuwanderung aus Osteuropa. Diese wurde zunehmend kontrovers geführt, war aber auf Schätzungen angewiesen. Die Zugeständnisse des EU-Gipfels vom Februar 2016 an Premierminister David Cameron betrafen vor allem die Beschränkung des Zugangs zu Wohlfahrtsleistungen. In Abweichung von der EU-Sozialversicherungskoordinierung wurde es den Briten erlaubt, die Indexierung von Kindergeldzahlungen vom Wohnort der Kinder abhängig zu machen. Zudem sollten im Notfall Aufstockerleistungen für gering beschäftigte Arbeitnehmer in den ersten vier Jahren des Aufenthalts ausgesetzt werden können. Cameron ging davon aus, dass Großbritannien mit diesen Zugeständnissen in der EU zu halten sei. Von Seiten des Europäischen Parlaments mit seinem Präsidenten Martin Schulz (SPD) wurde die zugebilligte Einschränkung der Gleichbehandlung als Verstoß gegen EU-Recht heftig kritisiert.
Die Eigenheiten der britischen Presse mit der Macht der Tabloids, aber auch des Parteiensystems, des Wohlfahrtsstaats und des Arbeitsmarktes machen den britischen Fall besonders und können das unglückliche Ausmaß der Politisierung der EU-Zuwanderung erklären. Indes zeugt der Ausgang der Brexit-Abstimmung im Juni 2016 auch von allgemeinen Strukturproblemen der EU, die in anderen Mitgliedstaaten bisher weniger Aufmerksamkeit erfahren.
Das britische politische System unterscheidet sich nicht nur durch das relative Mehrheitswahlrecht von dem der anderen Mitgliedstaaten, sondern ebenso durch seine common-law-Tradition und die Parlamentssouveränität. Beide Merkmale intensivieren die politische Aufmerksamkeit für die Dynamik europäischen Richterrechts. Schaut man in Deutschland traditionell nach Karlsruhe, so dass der Blick nach Luxemburg zum EuGH politisch leichtfällt, ist die Situation in Großbritannien eine völlig andere. In einem common-law-System ist Richterrecht neben Legislativakten gleichberechtigte Rechtsquelle und wird mit Bezug auf Gerichtsurteile von der Verwaltung direkt vollzogen. Durch die Parlamentssouveränität kann nationales Richterrecht, das politischen Mehrheiten zuwiderläuft, legislativ eingehegt werden. Der sich hier offenbarende Widerspruch zum Integrationsmodus der EU, der die korrekturlose Übernahme des acquis communautaire fordert, wurde in den siebziger Jahren beim Beitritt zur EWG geheilt, indem sich das Parlament im Beitritt den EWG-Rechtsbestand zu eigen machte.
Indes entfaltete das europäische Richterrecht seit den siebziger Jahren eine besondere Dynamik. Fiel es Großbritannien noch leicht, bei der liberalisierenden Stoßrichtung dieser Rechtsfortbildung mitzugehen, wurde die ebenfalls breite Interpretation der Unionsbürgerschaft seit Ende der 1990er Jahre zunehmend kontrovers diskutiert. Wegen dieser Rechtsprechung fasste die kurz vor der Ost-Erweiterung 2004 verabschiedete EU-Bürgerschaftsrichtlinie den Anspruch ökonomisch inaktiver Unionsbürger (bei weniger als fünf Jahren Aufenthaltsdauer) auf soziale Unterstützungsleistungen im Gastland nur vage. Weitgehende Rechte wollte man politisch nicht zugestehen; rechtlich konnte man sie schwer ablehnen.
Bis zum Herbst 2014, als der EuGH im Fall Dano der Bundesrepublik Deutschland das Recht zugestand, einer nichterwerbstätigen Rumänin Sozialleistungen zu versagen, wurden die aus der EU-Bürgerschaft abzuleitenden Rechte in verschiedenen Urteilen ausgedehnt. Dass der EuGH Großbritannien eine Woche vor dem britischen Referendum in einem Vertragsverletzungsverfahren gegen die Kommission unterstützte, indem er den „Right to Reside Test“ als legitimen Schutz des Wohlfahrtsstaates gegen Zuwanderung interpretierte, vermochte die Stimmung nicht mehr zu beeinflussen. Die damals gezeigte Rücksicht auf die Finanzierung nationaler Wohlfahrtsstaaten werteten viele Europarechtler als eine Art Verrat des EuGH am Versprechen der Unionsbürgerschaft, unabhängig von der Nationalität grenzenlose Gleichbehandlung zu bieten. Inwieweit sich grenzüberschreitende Solidarität in einer erweiterten und heterogeneren Union allein durch Rechtsfortbildung verwirklichen lässt, oder ob der Verzicht auf politische Gestaltung die Unionsbürgerschaft mittelfristig schwächt, wird im Europarecht kaum diskutiert.
Weil mitgliedstaatliche Wohlfahrtsstaaten auf Umverteilung beruhen, argumentieren die britischen politischen Theoretiker Richard Bellamy und Robert Lacey, dass nur diejenigen Staaten sich auf eine Gleichbehandlung ihrer Bürger einlassen können, die die eigene Bevölkerung adäquat vor Verarmung schützen. Diese Bedingung ist nach den Erweiterungsrunden immer weniger gegeben. Auch jenseits der EU-Bürgerschaft stellt sich die Frage, ob nicht doch ein Widerspruch zwischen Vertiefung und Erweiterung besteht, inwieweit gleiche Regeln unterschiedlichen Kontexten gerecht werden, wie eng die „immer engere Union“ werden soll und warum man meint, dass dies auch einheitlicher sein darf beziehungsweise kann als zwischen Bundesstaaten in den Vereinigten Staaten von Amerika oder Kanada.
Die Überkonstitutionalisierung der EU hat viele verschiedene Integrationsfortschritte ermöglicht, ohne dass die politische Unterstützung mit dieser Entwicklung mitgehalten hätte. Auf dem Kontinent zeigte dies die Auseinandersetzung über die europäische Dienstleistungsrichtlinie in den Jahren 2005/6 besonders deutlich. Während Großdemonstrationen das Binnenmarktprojekt politisierten, wurde der Richtlinienvorschlag innerhalb der Kommission zunächst als eher technische Anpassung an existierendes Richterrecht zur Dienstleistungsfreiheit diskutiert, also als simple Kodifizierung. Im britischen common-law-System ist EU-Richterrecht kontinuierlich präsenter als in den meisten anderen Mitgliedstaaten. Verwaltungsrichtlinien setzen die vom EuGH formulierten Bedingungen detailliert um, so beim „Genuine Prospect of Work-Test“ zum Anspruch auf Unterstützung von EU-Arbeitssuchenden.
Es sind auch EuGH-Urteile, die definieren, wer die volle Gleichbehandlung als EU-Arbeitnehmer genießt, da der Arbeitnehmerstatus nicht politisch, sondern durch verschiedene, in die siebziger Jahre zurückreichende EuGH-Urteile definiert ist. Weil die Wohlfahrtstaaten national finanziert werden, sind Fragen der sozialen Gleichbehandlung politisch besonders kontrovers: Eine niedrigschwellige Gleichbehandlung von EU-Bürgern hat eine spiegelbildliche Diskriminierung der Inländer zur Folge, wenn sie disproportional zur Finanzierung der Leistungen herangezogen werden.
Die anhaltende Diskussion um eine Indexierung von Kindergeld zeigt die Sensibilität auch anderer westlicher Mitgliedstaaten für die Modalitäten der Gleichbehandlung. Eine größere Politisierung ist in andere Mitgliedstaaten bisher ausgeblieben, und das wohl auch aufgrund einer besseren Datenlage. So konnte für Dänemark auf der Basis von Meldedaten gezeigt werden, dass der gut ausgebaute Wohlfahrtsstaat von der EU-Zuwanderung finanziell profitiert. In anderen Mitgliedstaaten sind deswegen andere Folgen der Überkonstitutionalisierung kontrovers. So war für Frankreich die Reform der Entsenderichtlinie wichtig, weil man sich davon eine bessere Kontrolle von Sozialdumping erhoffte. Die im Ministerrat unterlegenen Polen und Ungarn haben daraufhin eine Nichtigkeitsklage beim EuGH eingereicht, in der sie darlegen, dass Dienstleistungsfreiheit unzulässigerweise beschränkt werde. Sollte der EuGH den Bedenken folgen, zeigte dies den eingeschränkten Spielraum der EU-Legislative besonders drastisch.
Indem der Brexit, auch um Nachahmer abzuschrecken, denkbar hart ausfällt, schwächt die EU ihre eigene politische Legitimität. Ihre Regeln sind (zu) weit ausgreifend und politisch kaum reformierbar. Ohne ausreichende Mitwirkungsmöglichkeit muss aber der Austritt eine realistische Option sein, soll die Mitgliedschaft keinen Zwangscharakter bekommen. Angesichts des großen Einschnitts für die EU-27, den der Austritt Großbritanniens bedeutet, ist eine Chance vertan worden, politisch über die vier Freiheiten, das Wettbewerbsrecht und die Unionsbürgerschaft zu sprechen. Ihre Gestaltung ist weitgehend dem EuGH überlassen, während der Gemeinschaftsgesetzgeber in vielerlei Hinsicht Richterrecht kodifiziert. Drängende Fragen sind bislang verdrängt worden: Können Erweiterung und Vertiefung widerspruchsfrei verfolgt werden? Dient es der europäischen Sache, eine größere Einheitlichkeit der Regeln anzustreben, als wir sie in Nordamerika finden? Warum glaubt man, die EU über ein gestärktes Europäisches Parlament demokratisieren zu können, ohne über die Überkonstitutionalisierung der EU zu reden, die viele genuin politische Entscheidungen als Verfassungsfragen dem politischen Prozess entzieht?
Das Dilemma Großbritanniens ist im Brexit-Prozess offensichtlich. Aber ein Dilemma der Verantwortlichen in Brüssel und der anderen Mitgliedstaaten besteht ebenso. Auch wenn man den zweitgrößten Mitgliedstaat und historisch engen Verbündeten nun ziehen lässt, wird man der Diskussion über die Reform eines auf Überkonstitutionalisierung beruhenden Integrationsprozesses in den Demokratien der Mitgliedstaaten langfristig nicht ausweichen können.