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Griechische Schuldenkrise : Gut genährt dank Rousfetia

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Bild: ddp Images

In nahezu allen Ländern hat der EU-Beitritt dazu beigetragen, Staat und Wirtschaft zu modernisieren. In Griechenland dagegen hat er einem tief in der Geschichte wurzelnden System des Klientelismus neue Kraft gegeben. Eine Chronik des Desasters.

          12 Min.

          Alle Staaten Südosteuropas mit Ausnahme Zyperns leiden mehr oder weniger stark unter dem osmanischen Erbe des Klientelismus. Als im Europa der Renaissance die allgemeine Modernisierung begann, verschwand der Südosten des Kontinents gewissermaßen hinter einem eisernen Vorhang.

          Die osmanische Herrschaft, die in großen Teilen Griechenlands und des Balkans von der Mitte des 15. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts dauerte, veränderte diese Länder stark: Eine der ersten Maßnahmen der neuen Herrscher war die Vernichtung der alten Aristokratie, da diese die Führung in Aufständen hätte übernehmen können. Als lokale Führungskräfte blieben nur die ursprünglich gewählten Dorfbürgermeister übrig, die sogenannten Muchtare, die die osmanische Regierung vor Ort vertraten. Dadurch erhielten die Muchtare eine doppelte Funktion: Sie wurden zu Führern und Beschützern der örtlichen Bevölkerung, zugleich aber zu Objekten osmanischer Repression, sollte in ihrem Verantwortungsbereich etwas schiefgehen.

          Der Staat als Ausbeuter

          Aus ihrer Funktion als Beschützer gewannen die Muchtare in den Augen der Beschützten Prestige und Macht. Als Gegenleistung erwarteten sie von ihren Hintersassen Loyalität. Die Osmanen belohnten treue Dienste, und so wurden die lokalen Notabeln im Lauf der Zeit wohlhabend. Das Abhängigkeitsverhältnis zwischen den örtlichen Bauern und ihrem Patron existierte im ganzen Osmanischen Reich und wird als Muchtar-System bezeichnet. Es ist der historische Ursprung des heutigen Klientelsystems.

          Die osmanische Herrschaft führte dazu, dass die Griechen den Staat nur als Ausbeuter erlebten. Während in Westeuropa ein selbstbewusstes Bürgertum entstand, das sich mit dem eigenen Staatswesen identifizierte, war der Staat für die Griechen gleichbedeutend mit Fremdherrschaft, gegen die es sich zu wehren galt und die man hasste. Steuervermeidung und Diebstahl staatlichen Eigentums waren typische Abwehrreaktionen. Diese Einstellung gegenüber dem Staat wirkt bis heute fort.

          Klientelismus zu einem Zwangsmittel

          Als 1821 der griechische Unabhängigkeitskrieg begann, waren die klientelistischen Strukturen des Muchtar-Systems die einzigen Kristallisationskerne für die politische Organisation des Kampfes. Während der Auseinandersetzung vernetzten sich die Muchtare horizontal und bildeten zugleich vertikale Strukturen, so dass pyramidenförmige Netzwerke entstanden. Da die Dorfbürgermeister in der Regel keine militärische Erfahrung hatten, griff man im Kampf auf die Anführer der Klephten zurück - Räuberbanden, die sich der Kontrolle durch den osmanischen Staat durch Rückzug in die Berge entzogen hatten.

          Als Griechenland unabhängig wurde, gab es also eine klientelistisch organisierte Elite. Auf deren Netzwerke musste König Otto von Wittelsbach zurückgreifen, als er 1832 nach Griechenland kam - mit der Handvoll bayerischer Beamter, die er mitgebracht hatte, konnte er das Land nicht regieren. Die Patrone kontrollierten die untere Verwaltung und gewannen so Zugang zu staatlichen Geldern. Damit änderte sich der Charakter des Klientelismus: Bis dahin war die Beziehung zwischen Patron und Klient meist von einer gewissen Freiwilligkeit der Unterordnung geprägt gewesen. Beide hatten davon profitiert.

          Nun wurde der Klientelismus zu einem Zwangsmittel, um dem Einzelnen seinen Platz in der Gesellschaft zuzuweisen. Die Patrone stellten rasch fest, wie der Klientelismus zu politischen Zwecken eingesetzt werden konnte. Sie nutzten ihre Machtposition, um ihrer Klientel Gefälligkeiten zu erweisen; der griechische Begriff dafür lautet Rousfetia. Dazu verwendeten sie oft gestohlene staatliche Gelder oder vermittelten Posten in der Verwaltung. Als Gegenleistung erwarteten sie treue Gefolgschaft.

          Der erste griechische König war ein Monarch von Gnaden der Großmächte. Diese übten ihren Einfluss auf das Land aus, indem sie ihre Anhänger kontrollierten, die in sogenannten „Parteien“ organisiert waren. In Wirklichkeit handelte es sich dabei um klientelistische Netzwerke, und das zunächst in dreifacher Ausfertigung: es gab eine russische, eine englische und eine französische Partei. 1862 setzte Großbritannien eine neue Dynastie ein. Von nun an folgten die griechischen Könige und Politiker der Maxime: „Was will der ausländische Faktor?“

          Klientelistische Pyramiden

          Als Großbritannien die alleinige Schutzmacht wurde, entstanden „politische“ Parteien, nämlich eine liberale und eine konservative. An deren Charakter änderte sich aber nichts: Es waren klientelistische Pyramiden, die durch ein raffiniertes System von Rousfetia zusammengehalten wurden. Der Staat blieb Ausbeutungsobjekt der jeweiligen Anführer der klientelistischen Pyramide. Stimmenkauf bei Parlamentswahlen und Wahlfälschungen waren normale politische Erscheinungen. Ende des 19. Jahrhunderts charakterisierte ein griechischer Abgeordneter dieses System als politische Zuhälterei.

          Auch im 20. Jahrhundert hatten die griechischen Parteien mit ihren europäischen Entsprechungen nichts gemein. Parteiprogramme oder Parteitage waren ebenso unbekannt wie eine innerparteiliche Willensbildung von unten nach oben. Die Partei war die Klientel des Parteiführers und seiner Granden. Bis in die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts entschieden die Parteiführer souverän über den einzuschlagenden Kurs.

          Faktische Steuerfreiheit der Reichen

          Danach verschob sich das Hauptgewicht zu den Parteigranden. Konflikte innerhalb einer Partei wurden nicht durch Diskussion und Kompromiss gelöst, sondern dadurch, dass die Dissidenten mit ihrem klientelistischen Subnetz die Partei verließen und sich einer anderen klientelistischen Pyramide anschlossen. Parteiloyalität hing davon ab, welche Rousfetia der Parteiführer seiner Klientel zukommen lassen konnte. Machtwechsel kamen oft dadurch zustande, dass sich Teilnetze anderen Parteiführern anschlossen. So hat etwa die jetzige Regierungspartei Syriza Subnetze der langjährigen sozialistischen Regierungspartei Pasok absorbiert.

          Der Klientelismus ist so stark in der politischen Kultur der Region verankert, dass er sogar in der Lage war, die großen Ideologien des 20. Jahrhunderts zur Anpassung zu zwingen. Auf dem Balkan wurde der Faschismus zu einem Klientelfaschismus. Der griechische faschistische Diktator Ioannis Metaxas (1871-1941) verkündete stolz, dass er keine Massenpartei brauchte, weil das ganze Volk Partei gewesen sei. Tatsächlich zerschlug Metaxas die alten Klientelnetze und richtete die Überreste auf sich aus: Es gab nur noch eine Klientel mit ihm als Führer. Der Aufbau einer faschistischen Massenpartei wie in Deutschland oder Italien wäre systemfremd gewesen.

          Ein wichtiger Aspekt des Klientelismus ist die faktische Steuerfreiheit der Reichen. Die politischen und wirtschaftlichen Oligarchien waren und sind aufs engste miteinander verfilzt und sorgen dafür, dass die gesamte Oberschicht steuerfrei bleibt. Bis heute kontrollieren etwa 800 Familien mehr als 90 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Die staatlichen Einnahmen stammten zum größten Teil aus indirekten Steuern und der Lohnsteuer, die die kleinen Leute bezahlen.

          Jeder vierte Beschäftigte im öffentlichen Dienst

          Zu einer Industrialisierung wie in Westeuropa kam es in Griechenland nie. Die wirtschaftlichen Schwerpunkte lagen in der Landwirtschaft, dem Tourismus und dem Handel sowie der Schifffahrt. Ein chronischer Mangel an Arbeitsplätzen war die Folge und führte in der Vergangenheit zu Auswanderung. Um ihre Klientel an sich zu binden, sorgte die jeweils regierende Partei dafür, dass ihre Anhänger Arbeit im öffentlichen Dienst fanden, der dadurch immer größer wurde. Heute arbeitet jeder vierte Beschäftigte im öffentlichen Dienst. In Deutschland ist es jeder zwölfte.

          Mehrmals war der griechische Staat in seiner Geschichte bankrott. Erstmals wurde Griechenland im Jahr 1895 unter europäische Finanzaufsicht gestellt. Aber die griechische Oligarchie wusste, dass Großbritannien sie immer wieder vor dem Untergang retten würde. Die Schutzmacht brauchte Griechenland als Glied in der Absicherung der „Life Line“ des Empires durch das Mittelmeer. Als 1948/49 die zweite große Pleite folgte, sprangen die Vereinigten Staaten in die Bresche und retteten das Land. In diesem Fall diente die angebliche kommunistische Gefahr als Vorwand. Als sich die Amerikaner Mitte der fünfziger Jahren weigerten, Griechenland weiterhin finanziell zu unterstützen, suchte Athen sich einen neuen Geldgeber: Deutschland. Aus Bonn erhielt das Land Reparationszahlungen in Höhe von 315 Millionen Mark. Griechenland und Jugoslawien waren die einzigen Staaten, die nach dem Londoner Schuldenabkommen von 1953 Reparationen erhielten.

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          Es gab im 20. Jahrhundert eine einzige Chance, den Klientelismus zu überwinden, nämlich am Ende des Zweiten Weltkriegs. Da während der deutschen Okkupation der Zugang zu staatlichen Geldern versperrt war, wurden die alten Parteistrukturen allmählich bedeutungslos. Die Bevölkerung wandte sich daraufhin den aus der linken Résistance hervorgehenden Kräften zu, die in den von den Partisanen kontrollierten Regionen den griechischen Staat von den Wurzeln her neu aufbauten. Diese Kräfte umfassten alle progressiven Elemente der Gesellschaft von den Liberalen bis zu den Kommunisten. Der neue Staat mit seinem aus freien Wahlen hervorgegangenen „Parlament in den Bergen“ kannte keinen Klientelismus und keine Rousfetia. Am Horizont zeichnete sich eine Nachkriegsrepublik mit politischen Strukturen ab, die denen der westeuropäischen Staaten ähnelten.

          Bild: F.A.Z.

          Doch dieser neue Staat hätte auch sein Abhängigkeitsverhältnis gegenüber Großbritannien beendet. Churchill aber wollte die Wiederherstellung der Monarchie. Da die überwältigende Mehrheit der Griechen dies ablehnte und die Résistance strikt dagegen war, beschloss Churchill, den König unter Gewaltanwendung zurückzubringen. Um eine militärische Intervention moralisch zu rechtfertigen, beschwor er die kommunistische Gefahr herauf. Im Oktober 1944 sicherte er sie durch das „Prozentabkommen“ mit Stalin ab, im Dezember erfolgte die bewaffnete Intervention. Der nach vierwöchigen Kämpfen abgeschlossene Vertrag von Varkiza war ein fairer Kompromiss. Doch seine Bedingungen wurden von der griechischen Rechten mit stillschweigender Billigung der Briten in jeder Hinsicht verletzt. Das Resultat waren eine Wiederbelebung des klientelistischen Systems und ein Bürgerkrieg, der bis 1949 dauerte.

          Als Großbritannien die Last der Schutzmacht finanziell nicht länger schultern konnte, kam es 1947 zu einer Art Translatio Imperii hin zu den Amerikanern. In den gut zwei Jahren des noch andauernden Bürgerkrieges pumpten die Vereinigten Staaten mehr als 1,5 Milliarden Dollar nach Griechenland, die das Land aber nicht im Geringsten voranbrachten. Erst 1949 begannen in Griechenland die Nachkriegszeit und der Wiederaufbau des von zwei Kriegen zerstörten Landes.

          Bei den ersten Wahlen 1950 wählten die Griechen die liberalen Kräfte unter Nikolaos Plastiras. Als der Korea-Krieg ausbrach, sorgten die Amerikaner durch eine Änderung des Wahlrechtes dafür, dass die Konservativen an der Macht blieben. Unter den Ministerpräsidenten Alexandros Papagos, der während des Bürgerkriegs Oberbefehlshaber der antikommunistischen Kräfte war, und Konstantinos Karamanlis war Griechenland von 1952 bis 1963 ein Polizeistaat. Die Radikalnationale Union (ERE) von Karamanlis war die konservative klientelistische Pyramide. Giorgios Papandreous Zentrumsunion (Enosis Kentrou), in der sich liberale Kräfte zusammenfanden, war bis 1963 eine Klientelpartei im Wartezustand. Als er in jenem Jahr die Wahlen gewann, gelang es dem alternden Papandreou nicht, die Granden seiner Partei unter Kontrolle zu halten. Der König konnte Papandreou stürzen. In den folgenden Jahren bis 1967 war Griechenland in einer Dauerkrise.

          Im Militär gärte es. Es gab zwei Gruppierungen, die putschen wollten, Generäle und Obristen. Während die erste vom König und von den Amerikanern kontrolliert wurde, schlugen die Obristen am 21. April 1967 zu. Die Offiziere, die zumeist aus der bäuerlichen Unterschicht stammten, lehnten zwar den Parteiklientelismus der Oligarchie ab, was sie aber nicht hinderte, sich und ihre Klientel zu bereichern. Ohne einen Offizier, der half, konnte während der Militärdiktatur kaum ein Geschäft abgeschlossen werden. Dass der Offizier beteiligt war, verstand sich von selbst.

          Während der Diktatur begann unter den in Europa lebenden Exilgriechen eine intensive Diskussion darüber, wie man dieses System überwinden könnte. Bald bestand Konsens, dass man den Charakter der Parteien verändern musste, indem man Parteien europäischen Typs ins Leben rief, also Parteien mit Programmen, Kongressen, internem demokratischen Willensbildungsprozess und Wahl der Führung. Dazu sollte nach dem Verschwinden der Militärjunta eine neue sozialdemokratisch ausgerichtete Partei gegründet werden.

          Auch Giorgios Papandreous Sohn Andreas, der spätere Ministerpräsident, hatte an diesen Diskussionen teilgenommen und diesen Ideen zugestimmt. Aber bevor Beschlüsse gefasst wurden, putschte im Sommer 1974 die Junta. Diktator Dimitrios Ioannidis hatte in Zypern einen Putsch gegen Staatspräsident Makarios inszeniert, der zwar scheiterte, aber der Türkei den Vorwand für eine militärische Intervention lieferte. Als diese stattfand, stellte man in Athen fest, dass die Junta das Militär so heruntergewirtschaftet hatte, dass es nicht einsatzfähig war. Moderate Kommandeure entmachteten Ioannidis und riefen Konstantinos Karamanlis aus dem Exil zurück, damit er eine neue Regierung bilde.

          Karamanlis hatte im französischen Exil erkannt, dass der Klientelismus das Krebsübel Griechenlands war. Daher verkündete er, dass er in seine neue Partei Nea Dimokratia nur Individuen, aber keine Subnetzwerke seiner alten ERE aufnehmen werde. Nach nur zwei Monaten gab er dieses Vorhaben auf. Die Nea Dimokratia wurde wieder zur Klientelpartei der Konservativen. Auf der Linken waren die guten Vorsätze ebenfalls schnell vergessen, nachdem Andreas Papandreou aus dem Exil zurückgekehrt war. Er gründete die Pasok (Panhellenische Sozialistische Bewegung).

          Nach außen hin gab sich die neue Partei als sozialistisch, tatsächlich aber war sie vom ersten Moment an eine von Papandreou straff geführte Klientelpartei. Als oppositionelle Gruppen wie die ehemalige Widerstandsgruppe Dimokratiki Amyna (Demokratische Verteidigung), die gegen die Junta gekämpft hatte, dagegen protestierten, ließ Papandreou sie aus der Partei werfen. In der Führung der Pasok waren viele, die aus weniger wohlhabenden Schichten stammten, noch nie Zugriff auf die staatlichen Kassen gehabt hatten und nun Nachholbedarf verspürten.

          Damit war das alte klientelistische Zweiparteiensystem rehabilitiert. Karamanlis regierte das Land bis 1981. Dabei übertrieben es die Konservativen bei der Verteilung von Rousfetia an ihre Klientel nicht. Der größte Teil der Führungselite der Nea Dimokratia stammte aus dem wohlhabenden Bürgertum, so dass viele es nicht nötig hatten, sich selbst zu bereichern. Außerdem waren die Mittel begrenzt, die zweckentfremdet werden konnten: In der Hauptsache waren es Steuereinnahmen.

          Dies änderte sich, als Griechenland in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) aufgenommen wurde. Als Ministerpräsident Karamanlis im Juli 1975 den Aufnahmeantrag stellte, wollte er den griechischen Demokratisierungsprozess absichern, die Wirtschaft voranbringen und sein Land europäisieren. Die Europäer, allen voran Frankreichs Präsident Giscard d’Estaing und Bundeskanzler Helmut Schmidt, wollten die Demokratisierung unterstützen und stimmten daher der Aufnahme zu, obwohl sie wussten, dass Griechenlands Wirtschaft nicht wettbewerbsfähig war.

          Diese Haltung ging auf die idealistische Einstellung zurück, wonach das Land, in dem die Wiege der europäischen Kultur gestanden hatte, ein Recht auf Mitgliedschaft hatte - ein Argument, das in ähnlicher Form bis heute immer wieder vorgebracht wird, wenn Griechenland etwas durchsetzen will. Doch weder Giscard noch Schmidt erkannten, dass es mit einer formalen Demokratisierung nicht getan war. Um ein echtes Mitglied der Europäischen Gemeinschaft zu werden, hätte Griechenland den Klientelismus überwinden müssen. Stattdessen führte der Beitritt zur EWG nur zur Stärkung des Klientelismus.

          Vor der Parlamentswahl im Oktober 1981 warb Andreas Papandreou damit, dass Griechenland im Falle seines Sieges aus der Nato austreten und der unmittelbar bevorstehende EWG-Beitritt rückgängig gemacht werde. Wahr machte er diese Versprechen nicht. Denn mit dem Beitritt zur EWG begannen Hilfsgelder für die Entwicklung des Landes nach Griechenland zu fließen. Die Mittel, die leicht für klientelistische Zwecke umgewidmet werden konnten, machten bis 1988 immerhin drei Prozent des griechischen Bruttoinlandsprodukts aus.

          Kaum an der Macht, begann Papandreou den Klientelismus auszubauen. Bis dahin war der Klientelismus auf die griechischen Parteien beschränkt gewesen. Sie hatten den Staat zwar als Geldquelle genutzt, sich aber nicht in die eigentliche Arbeit der Verwaltung eingemischt, die deshalb trotz des Nepotismus stets einigermaßen funktionierte. Nun durchdrang die Pasok den Staat. Es wurden informelle Gremien geschaffen, die von der Partei beherrscht wurden und die Unabhängigkeit der Verwaltung unterminierten. Von nun an gab es keine technokratischen Entscheidungen mehr, sondern nur noch parteipolitische. Binnen weniger Jahre wurde der öffentliche Dienst um 82 000 Personen vergrößert, was eine Zunahme um 60 Prozent bedeutete. Außerdem wurden die Gehälter und Löhne erhöht. Das bedeutete natürlich, dass die staatlichen Ausgaben enorm wuchsen - und damit auch die Verschuldung.

          Bei Papandreous Amtsantritt hatte die griechische Staatsverschuldung 30 Prozent des Bruttoinlandsproduktes betragen, 1990 war sie auf 80 Prozent des BIP gestiegen. Papandreou finanzierte seine sozialen Wohltaten vor allem mit Geld aus Brüssel und immer neuen Krediten. Zwischen 1981 und 2006 erhielt Griechenland aus dem Strukturfonds der EG beziehungsweise der EU 52 Milliarden Euro. Mit Papandreous Wirtschaftspolitik begann eine Staatsverschuldung, die über alles hinausging, was seit der Gründung des neugriechischen Staates üblich gewesen war.

          Die Neigung, höhere Löhne durchzusetzen, verbreitete sich auf Papandreous Wunsch hin auch in der Wirtschaft. In den achtziger Jahren nahm das Einkommen der normalen Griechen um 26 Prozent zu. Noch Mitte der siebziger Jahre hatte es in Griechenland gut funktionierende Textilbetriebe gegeben, darunter Filialen deutscher Firmen. Diese produzierten in Griechenland billiger als in Deutschland, aber sie zahlten ihren Arbeiterinnen anständige Löhne. Als Papandreou die Gewerkschaften animierte, höhere Löhne zu fordern, führte das zur Schließung dieser Firmen. Griechische Firmen, die aufgrund der Lohnerhöhungen pleitegingen, wurden in Staatsbesitz überführt. Sie arbeiteten danach keinesfalls wirtschaftlicher, doch in ihnen konnte weiteres Personal untergebracht werden, was ihre Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit noch weiter reduzierte. All das trug zur enorm wachsenden Staatsverschuldung bei. Für die Nutznießer dieses Systems hatte es positive soziale Folgen, aber mit Sozialismus hatte Papandreous Klientelismus nichts zu tun. Er diente nur dem Machterhalt.

          Der Euroraum als Fluch

          Nach einem kurzen Zwischenspiel der Nea Dimokratia, das von 1989 bis 1993 dauerte, kehrte die Pasok an die Macht zurück. Kurz vor Papandreous Tod 1996 übernahm Konstantinos Simitis, ein Jurist und Wirtschaftswissenschaftler, das Amt des Ministerpräsidenten. Simitis versuchte, wirtschaftspolitisch das Steuer herumzureißen. Er reduzierte die Neuverschuldung und verringerte die Staatsausgaben. Um zu Einnahmen zu kommen, privatisierte er sogar Staatsbetriebe, was unter Papandreou ein Tabu war. Simitis’ Maßnahmen waren erfolgreich: In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre wuchs die griechische Wirtschaft.

          Unter Simitis schaffte es Griechenland, mit frisierten Zahlen in den Euroraum aufgenommen zu werden. Was für die westeuropäischen Staaten ein wirtschaftlicher Gewinn war, entpuppte sich für Griechenland letztlich als ein Fluch. Nun kam das Land noch einfacher an zinsgünstige Anleihen. Simitis erkannte die Gefahr und versuchte gegenzusteuern. Bis 2004 bemühte er sich, den Klientelismus einzudämmen, doch das System erwies sich als stärker als er. Obwohl er Ministerpräsident und Vorsitzender der Pasok war, konnte er sich nicht durchsetzen.

          Die Partei hatte eine Metamorphose durchgemacht: Sie war keine monolithische klientelistische Pyramide mit dem Patron an der Spitze mehr, sondern bestand nun aus relativ unabhängigen Teilnetzwerken. Deren Patrone verteilten selbständig die Rousfetia nach Gutdünken, denn sie hatten selbst Zugriff auf staatliche Mittel oder EU-Hilfsgelder. Als Simitis weiter zu bremsen versuchte, verdrängten ihn die Parteigranden von der Macht.

          Nach dem neuerlichen Wahlsieg der Nea Dimokratia im Jahr 2004 ging es weiter wie zuvor: Die führenden Persönlichkeiten der ND waren nicht länger wohlhabende Konservative, sondern eine jüngere Generation, die von der Gier nach schnellem Geld getrieben wurde. Während ihrer Herrschaft nahm die Verschuldung unvorstellbare Ausmaße an. Anders als bei der Pasok sickerte aber kaum Geld nach unten durch. Die staatliche Schuldenpolitik verleitete die griechischen Banken nun dazu, ebenfalls Schulden zu machen. Die Banken wiederum animierten die Bürger, auf Kredit zu konsumieren.

          Etwa zwei Jahrzehnte lang gab es so in Griechenland einen noch nie dagewesenen Wohlstand der breiten Bevölkerung. Aber es wurde nicht investiert. Die geliehenen Gelder flossen in den Konsum oder verschwanden auf der politischen Ebene auf Konten im Ausland. Das Ende dieser Entwicklung ist bekannt.

          Der Verfasser Heinz. A. Richter lehrte Geschichte an der Universität Mannheim.

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