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Umgang mit Missbrauchsfällen : Die Unfähigkeit zu praktischen Konsequenzen

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Papst Franziskus am Atelierfenster vor dem Angelus-Mittagsgebet Bild: dpa

Nicht der Kindesmissbrauch als solcher ist das moralische Problem der Kirche. Es ist ihre Unfähigkeit, die eigenen pathogenen Strukturen zu erkennen und zu erörtern.

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          Der folgende Essay ist in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 26. April 2010 erschienen und wird aus gegebenem Anlass noch einmal vom Podcast F.A.Z. Essay aufgegriffen.

          Die Essays des Ressorts „Die Gegenwart“ gibt es nämlich auch zum Hören – und zum Abonnieren, als Podcast. Auch diesen Text von Franz-Xaver Kaufmann.

          Unser Bewusstsein von der Geschichte des Christentums ist durch die römisch-katholische Kirche geprägt. Wie keine andere christliche Kirche nimmt sie für sich öffentlich und theologisch in Anspruch, die wahre Kirche Jesu Christi zu sein und bis in die apostolischen Anfänge zurückzureichen. Zwar besagen neueste Forschungsergebnisse, dass sich die Tradition, Petrus sei in Rom gewesen und dort den Märtyrertod gestorben, erst ab Mitte des zweiten Jahrhunderts gebildet habe, und auch sonst beruhen viele Traditionen und daraus abgeleitete Ansprüche der römischen Kirche auf oft zweifelhaften Grundlagen. Aber das hat ihrer Stabilität und Autorität bisher keinen dauerhaften Abbruch getan.

          Historisch betrachtet gehören transzendenzbezogene Religionen zu den dauerhaftesten Sozialphänomenen. Sie haben wirtschaftliche und politische Schicksale ganzer Völker und auch tiefgreifende Krisen ihres Klerus und ihrer Form überdauert. Es ist dieser sehr unterschiedlich ausgelegte Transzendenzbezug, aus dem sie ihre Kraft schöpfen. Die christlichen Traditionen sprechen hier von Glauben, einem Glauben, der nach den überlieferten Worten Jesu Berge versetzen kann.

          Dieser Glaube lässt sich – so jedenfalls in der römischen Tradition – auch durch noch so tiefe moralische Verfehlungen des Kirchenpersonals nicht delegitimieren. Dass Verbrecher an Kindern, denen schon Jesus einen Mühlstein an den Hals gewünscht hatte, bis in jüngste Zeit von kirchlichen Behörden wissentlich gedeckt und vor rechtsstaatlicher Verfolgung beschützt wurden, bleibt dennoch ein bestürzendes, erklärungsbedürftiges Phänomen.

          Späte Anerkennung der Kinderrechte

          Bei jedem Erklärungsversuch sind innerkirchliche und außerkirchliche Einflüsse zu unterscheiden. Um mit Letzteren zu beginnen, ist daran zu erinnern, dass Rechte von Kindern erst in jüngster Zeit zu einer der großen moralischen Fragen der Gesellschaft aufgestiegen sind. Dahinter steht die politischen Doktrin allgemeiner, also jedem Menschen in gleicher Weise zustehender Menschenrechte, die vielfältige, weit in die europäische Geschichte zurückreichende Wurzeln hat. An sozialer und politischer Kraft gewann sie aber erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

          Maßgeblich wurde die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948. Doch ist festzuhalten, dass dieser Akt damals keineswegs als historisches Ereignis gefeiert wurde. Es handelte sich vielmehr nur um eine von vielen Deklarationen der UN-Vollversammlung. In einer 1982 erschienenen Geschichte der Vereinten Nationen wird sie nicht einmal erwähnt. Der moralische und erst recht völkerrechtliche Aufstieg der Menschenrechte ist erst eine Entwicklung der jüngsten Geschichte. Die den Naturrechtsdiskurs verdrängende Anerkennung der Menschenrechtsdoktrin in den Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils (1962-1965) setzte dabei einen nachhaltigen Impuls.

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