Ereignisse und Gestalten : Wenn ein altes Schlachtross . . .
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Bild: Barbara Klemm
1994 wurde Helmut Kohl zum fünften Mal in Folge als Bundeskanzler vereidigt. Danach gab es in Bonn nur ein Thema: Wann endet die Ära Kohl?
Gerade noch einmal gutgegangen war es. Bonn, Bundestag, Mittwoch, 16. November 1994. Tag der Kanzlerwahl. Mit einer Beinahepanne begann die fünfte Amtszeit Helmut Kohls, von der die meisten glaubten, es werde seine letzte sein. Das übliche Ritual wurde vollzogen – Verlesen der Namen der Abgeordneten, die ihre Stimme abgeben sollten. Von Ulrich Adam (CDU) bis Gerhard Zwerenz von der PDS, der Nachfolgepartei der SED, wie damals regelmäßig hinzugefügt wurde. Die Schriftführer waren schon bei dem Buchstaben Z angekommen, als sich voller Aufregung zwei CDU-Abgeordnete ihren Weg zu den Urnen bahnten. Einer führte – der Vorsitzende der baden-württembergischen Landesgruppe, Otto Hauser. Einer wurde geführt – Roland Richter. Das Fehlen des Parlamentsneulings aus Pforzheim war der Führung der Unionsfraktion – bedingt durch widrige Umstände – erst gar nicht und Jürgen Rüttgers, dem Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer, buchstäblich in letzter Sekunde aufgefallen. Um 10.05 Uhr hatte der Wahlakt begonnen. Um 10.45 Uhr tauchte Richter auf. Er habe in seinem Hotel in Königswinter verschlafen, wurde alsbald glaubhaft kolportiert. „Roland Richter ist an einem Tag gelungen, woran andere Abgeordnete ganze Legislaturperioden arbeiten“, schrieb Karl Feldmeyer, Korrespondent dieser Zeitung. „Sein Name ist seit der Kanzlerwahl jedermann in Bonn bekannt.“ Roland Richter hat die Bekanntheit wenig geholfen. Seine erste Legislaturperiode sollte auch seine letzte sein. Jürgen Rüttgers stieg auf. Der „Erste Parlamentarische“ der Fraktion wurde – zuständig für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie – „Zukunftsminister“ in Kohls Kabinett. Über die ganze Wahlperiode aber zog sich ein Thema hin: Wann endet die Ära Kohl?
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Jede Stimme wurde gebraucht. Die Mehrheit von CDU, CSU und FDP war bei der Wahl zum 13. Deutschen Bundestag auf ein Minimum geschrumpft. Die Union verlor 2,3 Punkte und kam auf 41,5 Prozent. Die FDP sackte um 4,1 Punkte ab und landete bei 6,9 Prozent. 672 Abgeordnete gehörten dem Bundestag an, 341 davon den drei bisherigen und auch neuen Koalitionsparteien. Die im ersten Wahlgang für die Wahl zum Bundeskanzler erforderliche absolute Mehrheit betrug 337 Stimmen. Kohl erhielt 338 Stimmen. Es war kein guter Start. Was in Bonn über Kohl und seinen Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble so geredet wurde, fasste Claus Gennrich, auch er Korrespondent dieser Zeitung, mit Blick auf Rüttgers in zwei hintersinnigen Sätzen zusammen: „Schäuble verliert seine stärkste Stütze im Bundestag. Sollte Schäuble aber zu einem absehbaren Zeitpunkt Kanzler werden, fände er seinen Helfer mit einer inzwischen gesammelten Regierungserfahrung wieder vor.“
Die Erzählungen in den sogenannten CDU-Kreisen über den „absehbaren Zeitpunkt“ waren deutlicher. Zur Mitte der Legislaturperiode, also im Herbst 1996, werde das Amt des Bundeskanzlers von Kohl auf Schäuble übergehen. Schäuble-Vertraute wollten von einer Zusage Kohls und einer Absprache zwischen den beiden wissen. Kohl-Kenner bestritten das. Das Thema „Amtswechsel“ sei bei den Gesprächen zwischen den beiden ein Tabu gewesen. Ob es im Falle des Falles dazu gekommen wäre, stand ohnehin auf einem anderen Blatt. Schäuble und der CSU-Vorsitzende Theo Waigel, ohne dessen Zustimmung es so nicht hätte kommen können, hatten nicht das beste Verhältnis zueinander. Waigel stand fest an der Seite Kohls. In der CSU-Spitze, aber auch in der FDP gab es den Verdacht, Schäuble strebe ein Bündnis mit der SPD an, was die beiden Koalitionspartner der CDU ablehnten – und Kohl auch. Abwegig freilich war der Gedanke nicht. Gerhard Schröder, damals Ministerpräsident in Niedersachsen, hatte am Wahlabend zum Besten gegeben, die SPD solle aktiv und offensiv zur Bildung einer großen Koalition bereit sein. Schröder wäre nicht abgeneigt gewesen.